Der Weg des Unsterblichen
Was war hier passiert? War ich dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen? Nein, er hatte mich verschont. Welche Gründe er dafür gehabt haben mochte, Azriel hatte mich gehen lassen.
Verwirrt, wie noch nie zuvor in meinem Leben, stand ich da. Nur ein Gedanke formte sich klar in meinem Kopf: Mich einfach so laufen zu lassen war ein Fehler, den er noch bitter bereuen würde.
11
Noé . - »Du hast es mir aber hoch und heilig versprochen!« Monja schob ihre Unterlippe nach vorn und klimperte in atemberaubender Geschwindigkeit mit den langen Wimpern. »Komm schon, Noé, zieh jetzt nicht den Schwanz ein!«
Etwas verärgert sah ich sie an. »Du musst mich missverstanden haben. Zwischen ‚vielleicht‘ und ‚ich verspreche es dir hoch und heilig‘ liegt ein himmelweiter Unterschied!«
Ich wandte mich wieder nach vorn und starrte die Tafel an, versuchte mir die Formeln unserer letzten Unterrichtsstunde des Tages einzuprägen. Seit zwei Tagen hatte ich im Unterricht nicht mehr mit Monja gequatscht, meine nächste Mathenote würde sicher sehr zur Zufriedenheit meiner Mutter ausfallen. Nicht, dass ich mich irgendwie anstrengen wollte oder es auf einmal auf gute Noten angelegt hatte…ich war einfach zu deprimiert, um mich mit Monjas Problemenauseinander zu setzen. Es war drei Tage her, dass ich Azriel zum letzten Mal gesehen hatte, an diesem schicksalhaften Abend. Bisher hatte er sich nur selten so lange nicht blicken lassen, und mittlerweile war ich mir fast sicher, dass er sich endgültig aus dem Staub gemacht hatte. Ob er noch einmal wiederkommen würde, bevor ich das zeitliche segnete? Wahrscheinlich war es nicht. Aber hätte er sich nicht wenigstens verabschieden können, bevor er gegangen war? In den letzten Tagen hatte ich versucht, wütend auf ihn zu sein, aber ich konnte es nicht. Ich hatte ihm die Entscheidung mit meinen Worten ja auch nicht unbedingt schwer gemacht. Was hätte ich sagen sollen? Bitte, bleib hier?
Ich griff mir in die Haare und stöhnte leise auf. Diese Fragen brachten meinen Kopf fast zum Platzen, auch wenn es jetzt eh zu spät war. Vor allem war ich traurig über die Tatsache, die mein Gehirn noch nicht bereit war, zuzulassen. Obendrein wollte Monja mich mit ihren fanatischen Wahnvorstellungen einfach nicht in Ruhe lassen.
»Bitte, Noé!« flüsterte sie schon wieder eindringlich in mein Ohr und krallte sich an meinem Arm fest. »Was wäre denn so schlimm daran, ihn mir vorzustellen? Sag jetzt nicht…dass du dich für Nero interessierst?!«
»So ein Quatsch.«, stöhnte ich genervt, und unsere Lehrerin warf einen giftigen Blick über ihre Schulter. Gut, vielleicht war das gelogen. Ein ganz kleines bisschen. Irgendwie interessierte ich mich für ihn, aber nicht auf diese romantische Weise, die Monja im Kopf hatte. Er hatte mich überrascht, das war alles. Immerhin hatte ich die Unsterblichen immer für absolute Spinner gehalten, denen die Menschen egal waren. Und obwohl ich mich wirklich darum bemühte, jedem Wesen vorurteilsfrei zu begegnen, war mir das bei ihnen bisher nicht gelungen. Gerade darum war es erfrischend, dass ich mich scheinbar geirrt hatte.
»Na siehst du, dann dürfte es doch eigentlich auch kein Problem geben, oder? Oder?! Warum willst du ihn mir also nicht einfach vorstellen?«
»Das habe ich dir schon mal erklärt, aber für dich tu ich es gern noch einmal: Ich kenne diesenTypen kaum!«, fauchte ich und erntete dafür ein »Ruhe jetzt, die Damen!« von meiner Lehrerin. Es war mir eigentlich egal, sie hasste mich sowieso, seit ich sie einmal im Unterricht korrigiert und so zum Gespött der Klasse gemacht hatte. Aber langsam wurde ich doch sauer. Konnte dieses Mädchen es nicht einfach dabei belassen?
»Dann lern ihn verdammt nochmal kennen! Du bist doch diejenige, die den meisten Kontakt mit ihm hat!« Monja rückte mir noch mehr auf die Pelle, sodass man unsere Position mittlerweile als kuschelig bezeichnen konnte. »Er ist jeden Nachmittag nach der Schule im Klassenzimmer der siebten, scheinbar beobachtet er von da oben die Schüler, die nach draußen gehen. Wie ein Geheimagent, findest du nicht? Naja, auf jeden Fall könntest du doch mal zu ihm gehen und mit ihm sprechen, ganz allein?”
Ich sah sie entsetzt an. »Woher weißt du bitte, dass er da jeden Nachmittag ist?«
»Ist doch egal, woher ich diese Information habe. Ich habe sie.«, wehrte Monja ab, aber ichzog streng die Augenbrauen zusammen. »Moni, hör auf ihn zu stalken.«
»Ich stalke ihn doch
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