Der Weg des Unsterblichen
dem Kopf und sah wieder aus dem Fenster, doch ich konnte sehen, dass er die Lippen zusammenkniff und die Augen zu Schlitzen verengte. Ich wusste genau, was in ihm vorging.
»Es ist mir einfach unverständlich, wie man sich mit so jemandem anfreunden kann. Mit einem…Dämon.« An seiner Stimme konnte man hören, dass er derbere Worte nur unter großer Selbstbeherrschung unterdrückte. Er hätte Azriel gern ganz andere Namen gegeben.
Und auf einmal spürte ich das starke Verlangen, mich ihm zu erklären. Ich wollte, dass er mich verstand. Also trat ich näher zu ihm und begann nervös, an dem Reißverschluss meiner roten Kapuzenjacke herumzuspielen. »Das hat vor zehn Jahren angefangen. Ich war damals fünf Jahre alt und mit meinem Vater oft im Wald unterwegs, um Holz für seinen Laden zu holen. Er hatte ein Tischlereigeschäft, in dem er auch Spielzeug für die Kinder unserer Nachbarschaft herstellte. An einem Tag waren wir tiefer im Wald als sonst und da ist es passiert. Ich habe meinen Vater verloren, weil ich nicht aufgepasst habe. Eine ganze Weile bin ich im Wald herumgeirrt, habe mich immer weiter verlaufen…bis ich Azriel begegnet bin.« Die ganze Angst, die ich damals gespürt hatte, kam wieder hoch und setzte sich in meiner Kehle fest. Ich räusperte mich und spürte, dass Nero mich ansah. »Er hat mir geholfen, den Weg zurück zum Waldrand und zu meinem Vater zu finden. Der Wald ist riesig, es war kalt an dem Abend…mir hätte einiges passieren können. Er hat mich gerettet. Trotzdem hatte ich so großeAngst vor ihm, dass ich meinem Vater weinend in die Arme gelaufen bin. Ich glaube diese Reaktion hat mir Azriel nie so ganz verziehen.«
Bei der Erinnerung musste ich lächeln. »Mein Vater hat damals sehr mit mir geschimpft, dass ich solche schlimmen Vorurteile den Dämonen gegenüber hatte und mir erklärt, dass sie nicht so sind, wie die Unsterblichen erzählen. Meine Reaktion tat mir sehr leid, also habe ich mich am nächsten Abend rausgeschlichen und bin wieder zum Wald gegangen. Kindlich naiv, wie ich damals war, habe ich Azriel zur Wiedergutmachung Cheeseburger mitgebracht, die meine Mutter zum Abendessen gemacht hatte. Gegessen hat er sie trotzdem, wenn auch ohne mich anzusehen.« Ich musste kurz innehalten und tief Luft holen, bevor ich Nero fest ansah. »Ich war damals voller Vorurteile, obwohl er mir nur helfen wollte, das hat er wohl nie ganz vergessen. Aber trotzdem hat er mich später noch viele Male gerettet, was ihm auch viele Male zum Verhängnis geworden ist.« Ich verkrampfte die Hände zu Fäusten. »Mein Vater hat mir beigebracht, dass man nicht alles nurschwarz und weiß sehen darf. Meine Mutter sagt immer, dass es das war, was ihn schlussendlich das Leben kostete. Aber ich glaube, dass ihm das erst erlaubt hat, wirklich zu leben.«
Fast konnte ich ein leichtes Aufzucken in Neros Bewegungen wahrnehmen. »Wurde dein Vater von Dämonen getötet?«
»Nein, die Engel haben ihn vor acht Jahren hingerichtet.«
Eine Weile herrschte Stille zwischen uns und ich konnte nicht wirklich unterscheiden, ob sie eher betreten oder nachdenklich war. Auf jeden Fall aber fühlte ich mich unwohl. Diese ganze Geschichte war nur so aus mir herausgesprudelt, ohne dass ich eigentlich den Grund dafür kannte. Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken und erschrocken warf ich einen Blick darauf. Monja. Ich drückte sie eilig weg, um endlich dem peinlichen Klingelton Einhalt zu bieten, den sie eingespeichert hatte.
»Das war Moni, sie wird wohl langsam ungeduldig. Ich muss also los.« Etwas peinlich berührt sah ich in sein hübsches, kaltes Gesicht hoch. »Tut mir leid, aber sie bringt mich um,wenn ich ohne ein Ergebnis wieder auftauche. Würdest du dich mit ihr treffen?«
»Nein.« Seine Antwort kam schnell und tonlos aus seinem Mund.
»Oh, ok.« Ich war etwas überrascht über seine plötzlich so abweisende Reaktion, doch Nero hängte noch etwas an: »Du kannst aber Morgen noch einmal versuchen, mich zu überreden.«
Das warf mich nun doch aus der Bahn, und ich starrte ihn an, als hätte er auf einmal fließend japanisch gesprochen.
Er lachte leise. »Bis Morgen, Noé.« Und mit diesen Worten schlich er an mir vorbei und verließ das Klassenzimmer. Eine Weile starrte ich ihm noch nach, bevor ich meinen lahmen Körper endlich in Gang setzte und mich auf dem Weg nach draußen machte. Ich verstand diesen Unsterblichen einfach nicht. Immer wenn ich auch nur im geringsten Maße das Gefühl
Weitere Kostenlose Bücher