Der Weg in die Dunkelheit 2: Die Wächterin
von uns eine Karte. » Ernsthaft, wann immer ihr beiden mal runter zum Tribune Tower kommen wollt, um eine Runde durch die Nachrichtenredaktion zu machen, ein bisschen zu quatschen, mir Fragen zu stellen … kommt einfach vorbei. Es war schön, euch beide kennenzulernen, Lena und … Mo, nicht wahr?«
» Ja. Danke.« Ich legte die Karte auf den Tisch.
» Der war aber merkwürdig«, sagte Lena, kaum dass er gegangen war.
Ich hatte genug Merkwürdiges für einen Tag erlebt.
Sobald wir draußen auf dem Flur waren, legte Lena wieder los: » Was ist mit Constance passiert? Wie seid ihr beiden nach Hause gekommen?«
» Ich habe einen Freund angerufen.« Es war schwer zu sagen, was Luc eigentlich für mich war, aber » Freund« musste für den Augenblick reichen. » Er kennt sich gut mit solchen Situationen aus.«
Sie verschränkte die Arme. » Mm-hm. Nicht Colin. Der mysteriöse Kerl? Du hast doch gesagt, er wäre weg.«
» Da habe ich mich vielleicht geirrt«, erwiderte ich vorsichtig. Es erschien mir zu riskant, ihr mehr über Luc zu verraten. Es war für alle ungefährlicher, wenn die beiden Hälften meines Lebens, Bögen und Flache, sich nicht berührten, aber ein Teil von mir sehnte sich danach, ihr alles zu erzählen. Stattdessen zuckte ich ein bisschen die Achseln, als ob es nicht weiter wichtig wäre. » Was habe ich verpasst?«
» Zunächst einmal die Messe.« Wir machten einen Bogen um einen Haufen Neuntklässlerinnen. Ich hörte Constances Namen und hielt den Blick gesenkt. » Ich habe Schwester Donna erzählt, dass Allerseelen zu viel gewesen sei. Du wolltest allein sein. Ich glaube, sie hat es mir abgenommen.«
Allerseelen, der Tag, an dem wir der Nahestehenden gedachten, die im Laufe des letzten Jahres gestorben waren. Wie seltsam, dass ich das vergessen hatte, obwohl ich mich doch immer noch jeden Tag nach Verity sehnte.
» Danke.«
Lena grinste. » Wozu hat man Freunde?«
Als Colin mich bald darauf im The Slice is Right absetzte, hatten meine Kopfschmerzen sich gelegt, meine Besorgnis um Constance dagegen nicht. In dem engen Nebenraum, der meiner Mutter als Büro diente, stellte ich meine Tasche auf den Boden. Als ich meine braune Cordhose auspackte, fiel eine kleine Karte – ungefähr zehn Quadratzentimeter groß, aus steifem Karton – daraus hervor, auf die mit verschlungenen Linien detailliert eine Sonnenblume gezeichnet war. Sie gehörte mir nicht – meine künstlerischen Fähigkeiten beschränkten sich auf Strichmännchen und Fotografie. Wer auch immer sie gezeichnet hatte, hatte fest genug zugedrückt, um Furchen im Papier zu hinterlassen. Wahrscheinlich war die Karte aus einem meiner Bibliotheksbücher herausgefallen, aber sie war zu kunstvoll und hübsch, um sie wegzuwerfen. Ich schob sie in meine Tasche und ging nach draußen.
Nachdem ich mir das Haar mühsam zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, schnappte ich mir eine Schürze von dem Stapel neben der Bürotür. Die Schürzen im Slice – grün wie ein Granny-Smith-Apfel, mit Rüschen und Zackenlitze besetzt – waren schlimm genug, aber das dazu passende Kopftuch war noch schlimmer. Es rutschte ständig zur Seite, drückte mir das Haar zusammen und ließ mich wie ein geistesgestörtes Milchmädchen aussehen. Ich nahm mir einen Bleistift und einen Bestellblock, winkte Tim, dem Koch, zu und stellte mich auf einen Tag wie jeden anderen im Slice ein.
The Slice is Right war mein Zuhause, in gewisser Hinsicht sogar mehr als unser Einfamilienhaus aus orangefarbenen Ziegeln, weil das Slice, seit mein Vater ins Gefängnis gekommen war, unsere einzige Einkommensquelle darstellte. Damals war mir das noch nicht bewusst gewesen. Ich hatte nur bemerkt, dass wir viele Stunden im Restaurant verbrachten und dass meine Mutter dort glücklicher war als in unserem Haus. Zu Hause war die Abwesenheit meines Vaters in jedem Zimmer offensichtlich – zwei Gedecke fürs Abendessen statt dreien, ungelesene Stapel der Sports Illustrated und des Wall Street Journal, die sich türmten, bis die Abonnements ausliefen, morgens Stille statt des Gelächters und des Wettkitzelns. Das Slice dagegen war so überfüllt und geschäftig, dass man dort eine ganze Schicht lang arbeiten konnte, ohne dass einem auffiel, was fehlte, und die Stammgäste freuten sich immer, einen zu sehen, besonders, wenn man eine volle Kanne Kaffee und ein warmes Stück Kuchen brachte.
Das Restaurant war schon immer das Reich meiner Mutter gewesen. Sie setzte sich seit zwölf
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