Der Weg in Die Schatten
nächstes Mal jemanden überraschen wollen, sollten Sie nicht so lange auf einer Stelle stehenbleiben. Die Wärmesichtung Ihrer Füße verriet Sie schon in dem Augenblick, als gerade die erste Lücke zwischen Wand und Boden entstand.«
Braxen stand einen Moment lang schweigend da und richtete dann die Waffe zur Decke. »Okay. Ich lasse euch Typen das Seil knüpfen, mit dem Van Housen gehängt wird, aber ich möchte
dabei
sein,
wenn
die
schmutzigen
Cops
hochgenommen werden.«
Stealth musterte ihn mit seinen Zeiss‐Augen. »Und wenn Sie dabei nichts anderes zu tun kriegen, als Leichen zu zählen?«
»Dann sollte es sich wirklich um die Schmutzfinger handeln, und Sie sollten sauber sein. Besser noch porentief rein!« Braxen wandte sich an Tark. »Wenn du nicht dabeigewesen wärst, hätte ich den ganzen Haufen hochgenommen.« Er schickte noch
einen
unverständlichen
Ausbruch
Tunnelsprech
hinterher.
»Kaza.« Tark wartete, bis Braxen sich verzogen hatte, wandte sich dann in einen Nebenkorridor und winkte uns hinein, ehe er den Hebel betätigte, mit dem die Wand wieder herabgesenkt wurde.
»Tark, was hat er zum Schluß gesagt? Mein Tunnelsprech reichte gerade aus, um dein ›Ich verstehe‹ mitzukriegen, aber das war es auch schon.«
Tark widmete mir ein Achselzucken anstelle einer direkten Antwort. »Quis custodiet ipsos custodes?«
Meine Pupillen verengten sich, während Tark eine Kurbel drehte und das Licht anging. »Was heißt das?«
Tark lächelte auf diese leicht gönnerhafte Art, angesichts derer man sich dümmer vorkommt als der durchschnittliche Taschenrechner. »Das ist Latein, Wolf. Es heißt ›Wer bewacht die Wächter?‹. Juvenal stellte diese Frage in seinen Satires , aber sie paßt auch hier. Harry schließt nicht gern ein Abkommen mit einer Außenseitergruppe, um das eigene Haus sauberzumachen. Gleichzeitig rechnet er sich aber keine großen Wahlmöglichkeiten aus, weshalb er auch bei der Verhaftung der miesen Cops dabeisein möchte. Er erinnerte mich daran, daß diejenigen, die so wenig in der Hand haben, auf ihre Ehre angewiesen sind, und er ist darauf angewiesen, die Verhaftung vorzunehmen.«
Angesichts des Ausdrucks auf Tarks Gesicht gelangte ich zu dem Schluß, daß ich kein Bedürfnis nach weiteren Erörterungen orkischer ‐ oder römischer ‐ Philosophie hatte.
Tark übernahm die Spitzenposition und führte uns durch ein regelrechtes Tunnellabyrinth. Obwohl die Zeit knapp war, wußte ich, daß unsere Route nicht so direkt verlief, wie es hätte sein können. Tark äußerte keinerlei Entschuldigung dafür, daß er uns um beträchtliche Abschnitte des orkischen Reiches herumführte. Wir begegneten keiner Menschenseele, und das konnte nur heißen, wir wurden überwacht.
Unterwegs gelang es uns, aus ein paar Dingen schlauzuwerden. Die Attentate auf Mirin und James Yoshimura mußten zweifellos etwas miteinander zu tun haben. Abgesehen davon, daß sich LoneStar‐Leute bei beiden Ereignissen in der Nähe herumgetrieben hatten, waren die beiden Messerjungs, die man für den Yoshimura‐Mord festgenagelt hatte, gar nicht für Mordanschläge bekannt. Keine von Stealth’ Quellen hatte etwas über den Abschluß von Kontrakten mit Freischaffenden verlauten lassen. Natürlich schließt er keine solchen Verträge mehr ab, aber er hält weiterhin die Ohren offen. Wenn man nun einen Zusammenhang
herstellte
zwischen
den
bestellten
Anschlägen, den miesen Cops und dem Yakuza‐Angriff auf Bobs Transporte und Frachten, wobei eine Menge Natural Vats‐Produkte zerstört worden waren, sah die Sache sehr nach einer versuchten Übernahme von NatVat aus.
»Dann sind wir also einer Meinung«, schloß ich. »Der Schlüssel zu diesem Schlamassel liegt in der Beantwortung der Frage, wer Nadia Mirin tot sehen wollte und warum.«
Die orkischen Tunnel führten uns zwei Blocks von dem Sandsteinhaus, das Raven zu seinem neuen Hauptquartier erwählt hat, wieder an die Oberfläche. Wir sahen keine LoneStars auf den Straßen, aber wir nahmen trotzdem die hintersten Gassen, um das Gebäude zu erreichen. Tark benutzte seinen Retina‐Scanner und öffnete das Tor zum Hinterher, während Stealth sich nach jemandem umsah, den er umbringen konnte. Ich drängte unsere Gäste auf den Hof und dort zur Hintertür.
Und sie blieben abrupt stehen.
Dr. Richard Raven trat aus den Schatten auf der Veranda hervor, und seine Silhouette zeichnete sich in dem Licht ab, das zur Tür herausfiel. Wären nicht die
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