Der Weg in Die Schatten
durchdrungen von dem stahlgrauen F lackern des mechanisch Aufgerüsteten.
Gewöhnlich ist die aurische Ausstrahlung der halbtoten Maschinenmenschen unserer Zeit nicht sehr ausgeprägt, aber die Lebenskraft dieses Mannes loderte so hell, daß sie sich wie ein blitzendes Kaleidoskop vor dem Hintergrund des schmuddeligen Nebels abzeichnete. Ich empfand eine Zuneigung zu dem Fremden, die ebenso stark wie unerklärlich war, und beschloß ihn anzusprechen.
»Hey, Mista, kleiner Blick in die Zukunft gefällig? Kostet nur zehn Nuyen …« Ich fand selbst, daß sich meine Stimme wehleidig anhörte, und ich muß in meinem Zigeunerrock und dem geflickten Farmerhemd wie eine Straßenbettlerin unter vielen gewirkt haben. Der Regenmantel des Mannes war für den Seattler Nieselregen viel geeigneter, aber uns Elfen macht die Kälte nicht so zu schaffen wie euch Weltlichen. Als der Fremde näherkam, spiegelte ich mich in den glänzenden schwarzen Optiken wider, die seine Augen ersetzten ‐ ein dunkelhäutiges Mädchen, zu dünn, um als hübsch zu gelten, gekleidet in Lumpen mit verblaßten Farben. Meine kurzen schwarzen Haare lagen in engen Locken am hochstirnigen Elfenschädel an. Ich saß auf der Treppe vor Dentons Wissensladen, und die grüne Ledertasche mit all den Gerätschaften und Talismanen meines magischen Handwerks hatte ich hinter mir in eine Ecke gestopft.
Eine kalte Windbö vom Meer blies mir ölige Regentropfen ins Gesicht. »Können wir vielleicht irgendwohin, wo es trocken ist?« fragte der Mann.
Ich witterte ein Geschäft, stand auf und widmete dem Typ mein schönstes Na‐komm‐schon‐Lächeln. Die Empathie zwischen uns war bereits so stark, daß ich die ersten leisen Regungen der Lust in ihm spürte, während er meine weißen Zähne und meine schlanke Figur musterte. »Claro! Wir gehen in den Laden. Denton ist ein Freund von mir.«
Eine Kuhglocke bimmelte, als wir das Geschäft betraten.
Rexo und Blinky, zwei junge Ledertypen von der Youngbloods‐Gang, saßen zusammen mit ihrer anschmiegsamen Normajean an Dentons altmodischem PC und spielten Wasteland . Rexo, der größere von ihnen, musterte den Neuankömmling mit kaltem Blick und strich dabei mit der Hand leicht über den Katzbalger, den er in einer Lederscheide an der Hüfte trug.
Seine Augen sagten alles. Mach keine Schwierigkeiten! Mein Kunde nickte sachte, gerade einen Millimeter, was aber als Anerkennung der Tatsache ausreichte, daß er sich nicht im eigenen Revier befand. Nach ein paar Sekunden wandte sich Rexo wieder dem Spiel zu.
Dentons Laden vermittelt einem den Eindruck, als befände man sich in einer anderen Epoche, zum Teil deshalb, weil der Inhaber selbst so alt ist, mindestens 130 Jahre. Er stand hinter einem Ladentisch aus Holz und Glas und lächelte uns an.
Denton ist ein großer Mann, ein bißchen dick, aber mit kräftigen Muskeln unter dem weißen Haar auf seinen Armen, kahlköpfig und mit einem Bart wie der Nikolaus. Er rauchte gerade eine altmodische Tabakzigarette. Er stellt diese Dinger selbst her und verdient durch den Verkauf der eigenen Marke wahrscheinlich mehr als mit den ganzen Kräutern, Talismanen und Zauberbüchern, die seine Regale füllen. Wo wir schon von Zauberbüchern sprechen: Denton besitzt Hunderte echter Bücher aus dem zwanzigsten Jahrhundert, falls euch je nach Lesen zumute ist.
Ich führte den Fremden an den ersten Reihen von Plastiglas-Schauvitrinen vorbei zu einem alten Klapptisch und einem Paar altertümlicher Stühle auf der dem Computer gegenüberliegenden Seite des Raums. Draußen hatte sich der Nieselregen in einen Guß verwandelt.
»Hab’n Kunden, Dent!« zwitscherte ich. »Kann ich für’n Weilchen an den Tisch?«
»Kein Problem, Flut«, antwortete er und winkte ab.
»Vielleicht möchte der Gentleman, wenn du fertig bist, gern einige meiner Waren begutachten.«
Wir setzten uns, und ich holte meine Tarotkarten aus der Tasche. Ich bewahre die Karten in grüne Seide eingewickelt auf und behandle sie mit der Ehrfurcht, die jedem magischen Werkzeug gebührt.
Mein Spiel ist alt. Es stammt aus den 1970ern und wird seit drei Generationen in unserer Familie von der Mutter auf die Tochter weitergegeben. Ich hielt die Karten mit den Symbolen nach unten und breitete sie fächerförmig aus, wobei ich die ganze Zeit kurze Sprüche klopfte, um meinen Kunden aufzulockern. Die Rückseite der Karten zeigt eine Art Wellenmuster aus Karos von abwechselnd schwarzer, weißer und türkiser Farbe.
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