Der Weg in Die Schatten
eine Stelle, an der zwei Balken zusammenstießen. Es war schmerzhaft, aber ein Blutjunge lernte, Schmerz zu ignorieren. Dann ließ er mit den Füßen den Balken los und schwang frei im Raum. Was die fette Edelfrau unter ihm wohl denken würde, wenn ihr Essen plötzlich von einem herabfallenden Schatten zerdrückt wurde? Er hielt sein gesamtes Gewicht an den Fingerspitzen und benutzte es, um die Finger tiefer in die Ritze zu drücken, dann ließ er mit der rechten Hand los und hangelte sich auf die andere Seite der Verbindung, vorbei an der glatten Stelle, wo alle Balken zusammenliefen.
Er hatte es einzig seinen langen Armen zu verdanken, dass er es schaffte. Er bekam drei Fingerspitzen in die Ritze auf der gegenüberliegenden Seite des Balkens. Als er das Gewicht verlagerte, ließ der Staub in der Ritze seine Finger abrutschen.
Blint machte eine knappe Bewegung mit dem Handgelenk, als seine Finger den Halt verloren. Er fiel etwa zehn Zentimeter, bis der Handgelenkhaken sich in eben der Ritze fing, aus der ihm die Finger gerade herausgerutscht waren. Der Haken hielt ihn. Blint ließ mit der linken Hand los und hangelte sich erneut mit einem Schwung weiter - jetzt würde er bei einem Sturz direkt auf der Frau landen statt in ihrem Essen. Dann zog er sich an dem Haken, der ihm ins Handgelenk schnitt, so hoch hinauf, dass er wieder mit den Fingern Halt fand. Er zog den Haken
heraus, hangelte sich noch einmal weiter und bekam auch mit der anderen Hand die Kante des Balkens zu fassen.
Jetzt hielten nur noch die Fingerspitzen - auf der gleichen Seite des von Staub rutschigen Balkens - sein ganzes Gewicht. Hatte er gedacht, er liebe seine Arbeit?
Aber mit der Anmut langer Erfahrung schwang er sich zur Seite und erreichte mit einem Fuß den Balken. Geschickt wand er sich auf den Balken zurück, ohne auf den Staub zu achten, den er dabei auf die Festgesellschaft rieseln ließ. Einige Risiken ließen sich eben nicht vermeiden.
Und einige Risiken kann man vermeiden. Ich habe meine Risiken nicht gerade auf ein Minimum beschränkt, oder? Durzo versuchte, nicht darüber nachzudenken, aber es kostete ihn Nerven, an dem Balken entlangzurutschen und sich dabei wie eine Putzfrau zu benehmen. Er hatte Kylar alle Fingerzeige gegeben, die er brauchte, um zu unterbrechen, was Roth hier plante. Und er hatte ihm ein hinreichendes Motiv gegeben, um sicherzustellen, dass er hierherkam, statt die Stadt zu verlassen. Es ist einfach Pech, alter Knabe. Aber was bedeutete Pech ihm jetzt noch? Er würde verlieren, ganz gleich, was geschah.
Am Kopftisch stand der König. Sein Gesicht war gerötet, und er schwankte. Er hob sein Glas. »Meine Freunde, meine Untertanen, heute ist Mittsommerabend. Wir haben viel zu feiern und viel zu betrauern. Ich - im Lichte dessen, was am vergangenen Tag geschehen ist, fehlen mir die Worte. Unser Königreich hat den Verlust von Catrinna Gyre und ihrem gesamten Haushalt durch die Hände ihres mörderischen Gemahls erlitten, und wir trauern um unseren geliebten Prinzen.« Dem König versagte die Stimme bei diesen Worten, und seine Gefühle waren so offensichtlich, dass in nicht wenigen Augen ebenfalls Tränen standen. Der Prinz war jung und gutaussehend, wenn auch unklug gewesen,
und die Gyres hatte man seit Jahrzehnten um ihrer selbst willen und seit Generationen um ihrer Familie willen respektiert.
»Heute versammeln wir uns, um den Mittsommerabend zu feiern. Einige von Euch fragen sich vielleicht, warum wir im Schatten solch dunkler Taten überhaupt feiern. Ich werde Euch sagen, warum. Wir wollen das Leben unserer geliebten Menschen feiern und nicht ihren Tod betrauern.« Lordgeneral Agon, der links vom König saß, nickte mit grimmiger Zustimmung. Durzo fragte sich, wie viel von dieser Ansprache von Agon stammte. Das meiste davon, vermutete er.
Der König trank aus seinem Glas und vergaß, dass er mitten in einem Trinkspruch war. Die Edelleute im ganzen Raum wirkten verwirrt. Sollten sie trinken, oder war der König noch nicht fertig? Etwa die Hälfte von ihnen entschied sich für Ersteres, doch der König fuhr fort, und seine Stimme gewann an Lautstärke. »Ich werde Euch sagen, warum wir hier sind. Wir sind hier, weil die Bastarde, die meinen Sohn ermordet haben, mich nicht aufhalten werden. Sie werden mich nicht kriegen. Sie werden mich nicht daran hindern zu tun, was zur Hölle mir gefällt!«
Lordgeneral Agon wirkte erschrocken. Aleine IX. war vom Königsplural in die erste Person Singular gerutscht.
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