Der Weg in Die Schatten
dass ihn keine Hunde bekommen würden. Oder Wölfe. Er hatte schreckliche Träume von einem Wolf gehabt, der ihn angrinste, mit flammenden, gelben Augen. Wenn er in seinem toten Körper festsaß, was würde geschehen, wenn sie anfingen, Stücke von ihm abzureißen? Würde er Vergessen finden, als sei er endlich eingeschlafen, oder würde er einfach in Bewusstseinsstücke zerreißen und langsam in die Erde sickern, nachdem er die Mägen von einem Dutzend Tiere passiert hatte?
Etwas berührte sein Gesicht, und er riss die Augen auf. Er hörte das erstickte Auf keuchen, noch bevor seine Augen erkennen konnten, von wem das Geräusch gekommen war. Es war ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, und seine Augen waren so groß, dass sie die Hälfte seines Gesichts einnahmen.
»Noch nie eine Leiche gesehen?«, fragte er.
»Vater! Vater!«, kreischte sie mit der ganzen überraschenden Lautstärke, deren kleine Kinder fähig sind.
Er stöhnte, als das Geräusch ihm Messer in den Kopf rammte, und ließ sich wieder auf die Kissen fallen. Kissen? Also war er nicht tot. Das sollte wahrscheinlich etwas Gutes sein.
Als er wieder erwachte, musste einige Zeit verstrichen sein, denn der Raum war hell und luftig. Breite Fenster waren aufgerissen worden, und der Marmor, mit dem der Boden ausgelegt war, glänzte im Sonnenlicht. Azoth erkannte die Decke; er hatte schon einmal zu ihr emporgestarrt. Er befand sich im Gästezimmer von Graf Drake.
»Zurück von den Toten, hm?«, fragte der Graf. Er lächelte. Als er den Ausdruck auf Azoths Gesicht sah, fügte er hinzu: »Ah, nun, tut mir leid. Denk nicht darüber nach. Denk überhaupt nicht. Iss.«
Er stellte Azoth einen Teller voller dampfender Eier und Schinken hin und dazu ein Glas mit reichlich gewässertem Wein. Das Essen sprach direkt zu Azoths Magen, unter kompletter Umgehung höherer Funktionen. Es waren mehrere Minuten vergangen, als ihm klarwurde, dass sowohl der Teller als auch das Glas leer waren.
»Schon besser«, sagte der Graf. Er saß auf der Bettkante und polierte geistesabwesend seinen Kneifer. »Weißt du, wer ich bin und wo du bist? Gut. Erinnerst du dich daran, wer du bist?«
Azoth nickte langsam. Kylar.
»Man hat mir einige Nachrichten für dich gegeben, aber wenn du dich noch nicht gesund genug fühlst...«
»Nein, bitte«, sagte Kylar.
»Master Tulii sagt, deine Arbeit bestehe jetzt darin, dich auf dein neues Leben vorzubereiten und gesund zu werden. Wörtlich: ›Bleib mit deinem Arsch im Bett. Ich erwarte, dass du bereit bist, wenn ich dich holen komme.‹«
Kylar lachte. Das klang in der Tat nach Master Blint. »Wann wird er denn kommen?«
Ein besorgter Ausdruck legte sich über die Züge des Grafen. »Es wird noch eine Weile dauern. Aber du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen. Du wirst jetzt hier leben. Dauerhaft. Du wirst natürlich deine Lektionen mit deinem Meister fortsetzen, aber wir werden alles in unserer Kraft Stehende tun, damit man dir die Straße nicht länger ansieht. Dein Herr lässt dir ausrichten, dass du nicht so schnell genesen wirst, wie du es erwartest. Aber da ist noch etwas, das ich dir sagen will. Es geht um deine kleine Freundin.«
»Ihr meint...?«
»Es geht ihr gut, Kylar.«
»Wirklich?«
»Ihre neue Familie hat ihr den Namen Elene gegeben. Sie hat gute Kleider und drei Mahlzeiten am Tag. Es sind gute Menschen. Sie werden sie lieben. Sie wird jetzt ein richtiges Leben haben. Aber wenn du ihr in irgendeiner Weise von Nutzen sein willst, musst du gesund werden.«
Kylar fühlte sich, als schwebe er. Das Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, schien heller zu sein, schärfer. Auf dem Fenstersims erstrahlte ein Gesteck aus orangefarbenen Rosen und Lavendel. Er fühlte sich auf eine Weise gut, wie er es nicht mehr getan hatte, seit Ratte zur Faust des Schwarzen Drachen geworden war.
»Sie waren mit ihr sogar bei einer Magierin, und die Frau sagte, sie werde auf jeden Fall gesund werden, doch sie könne nichts gegen die Narben tun.«
Irgendjemand hatte all sein Glück gerade mit Teer bestrichen.
»Es tut mir leid, Sohn«, sagte Graf Drake. »Aber du hast das Beste getan, was du tun konntest, und ich verspreche dir, dass sie
ein besseres Leben haben wird, als sie es jemals auf der Straße hätte haben können.«
Kylar hörte ihn kaum. Er starrte aus dem Fenster, den Kopf von Graf Drake abgewandt. »Ich kann Euch noch nicht bezahlen. Nicht bevor ich wieder Lohn von Master... von meinem Meister
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