Der Weg in Die Schatten
bekomme.«
»Das hat keine Eile. Bezahle mich, wenn du kannst. Oh, und ein Letztes noch hat mich dein Meister gebeten, dir auszurichten. Er sagte: ›Lerne von diesen Leuten jene Dinge, die dich stark machen werden, und vergiss den Rest. Hör viel zu, sprich wenig, werde gesund und amüsiere dich. Es könnte die einzige glückliche Zeit deines Lebens sein.‹«
Kylar war wochenlang bettlägerig. Er versuchte, so viel zu schlafen, wie die Drakes es ihm auftrugen, aber er hatte viel zu viel Zeit. Er hatte noch nie zuvor Zeit gehabt, und es gefiel ihm nicht. Als er auf der Straße gelebt hatte, hatte er jeden Augenblick damit verbracht, sich um seine nächste Mahlzeit zu sorgen, sich um Ratte zu sorgen oder darum, dass ältere Jungen oder Mädchen ihn terrorisierten. Bei Master Blint hatte er so viel mit seiner Ausbildung zu tun gehabt, dass ihm keine Zeit zum Nachdenken geblieben war.
Jetzt, da er Tag und Nacht im Bett saß, hatte er nichts anderes als Zeit. An Training war nicht zu denken. Lesen war möglich, aber immer noch qualvoll. Für eine Weile verbrachte Azoth seine Zeit damit, Kylar zu werden. Nach den Richtlinien, die Master Blint ihm an die Hand gegeben hatte, und von den Tatsachen ausgehend, die jeder entdecken würde, der seine Geschichte überprüfte, ersann er weitere Geschichten über seine Familie, das Gebiet, aus dem er stammte, und die Abenteuer, die er erlebt hatte, wobei er sie recht harmlos hielt,
eben so, wie sich die Menschen das Leben eines Elfjährigen gern vorstellten.
Doch auch das hatte er bald gemeistert, und die meiste Zeit dachte er an sich selbst als Kylar. Er lernte auch die Töchter des Grafen kennen. Ilena war die hübsche Fünfjährige, die er, als er das erste Mal erwacht war, halb zu Tode erschreckt hatte; Mags war eine schlaksige Achtjährige und Serah eine abwechselnd verlegene und hochmütige Zwölfjährige. Sie lieferten eine gewisse Ablenkung, aber die Gräfin hinderte sie daran, Kylar zu »stören«, damit er »seine Ruhe bekam«.
Der Graf und die Gräfin waren faszinierend, aber Graf Drake arbeitete die meiste Zeit, und die Gräfin hatte sehr klare Vorstellungen von elfjährigen Jungen - die in keiner Hinsicht mit dem übereinstimmten, was Kylar über elfjährige Jungen wusste. Er konnte nie entscheiden, ob sie wusste, was er war, und sich ahnungslos stellte, um ihn bessern zu können, oder ob Graf Drake sie im Dunkeln gelassen hatte.
Sie war gertenschlank, hellhäutig und blauäugig, eine irdische Vision der himmlischen Wesen, an die die Drakes glaubten. Wie der Graf war sie fest entschlossen, Kylar selbst zu bedienen, als wolle sie beweisen, dass sie sich ihm gegenüber nicht überlegen wähnte. Als Kylar in der ersten Woche schrecklich krank geworden war und sich auf den Boden erbrochen hatte, war sie hereingekommen und hatte ihn festgehalten, bis er zu zittern aufhörte, dann hatte sie sich die Ärmel hochgekrempelt und das Erbrochene selbst weggewischt. Er war so krank gewesen, dass er erst lange danach geziemend entsetzt sein konnte.
Er konnte die Male nicht zählen, da sie hereingekommen war, um ihn mit Essen vollzustopfen oder nachzusehen, wie er sich fühlte, oder ihm dumme Kinderbücher vorzulesen. Die Bücher waren voller tapferer Helden, die böse Hexen töteten.
Die Kinder in diesen Büchern brauchten niemals Müllhaufen und Erbrochenes draußen vor einem Gasthaus zu durchsuchen, um auch nur ein Bröckchen essbarer Nahrung zu finden. Ältere Jungen versuchten niemals, sie zu vergewaltigen. Sie ließen niemals ihre Freunde im Stich. Den Prinzessinnen, die sie retteten, wurde niemals das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen. Niemand trug jemals so schlimme Narben davon, dass ein Magier sie nicht wieder in Ordnung bringen konnte.
Kylar hasste die Geschichten, aber er wusste, dass die Gräfin nur das Beste für ihn wollte, daher nickte und lächelte und applaudierte er, wenn die Helden siegten - was sie unweigerlich taten.
Kein Wunder, dass all die kleinen Adligen Armeen führen wollen. Wenn es so wäre wie in den Büchern, die ihre Mütter ihnen vorlesen, würde es Spaß machen. Es würde Spaß machen, wenn man befriedigt darüber wäre, dass der Böse starb, statt den Wunsch zu verspüren, sich zu übergeben, weil man bloßliegende Knorpel und spritzendes Blut sah, wo man ein Ohr abgeschnitten hatte. Blut, das sich in einer Million wunderschöner Kreise mit Wasser vermischte, während er langsam verblutete, unter Wasser gehalten von dem Seil,
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