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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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ihren. Die Zuschauer hielten den Atem an. Der Dirigent der Kapelle hatte den Kopf gewandt und schaute über die Schulter in die Manege hinunter, während er seinen Stab, ohne es selbst zu wissen, in die Luft streckte.
    »Takur! Takur!« Das war der Name des Tigers.
    »Rrrrhhh …«
    »Takur!«
    Ronald hatte noch nicht zur Peitsche oder Pistole gegriffen. Mit nackter Brust und bloßen Händen trat er dem fauchenden Tier zwei Schritte näher.
    »Takur!«
    Der Tiger ging vorsichtig einen Schritt zurück, um Abstand zu gewinnen.
    Das bedeutete Gefahr.
    »Takur! Allez!«
    »Rrrrhhh …«
    In diesem Augenblick schlug Tigra mit blitzartiger Schnelligkeit dem Tiger mit ihrer Pranke eine kräftige Ohrfeige. Der Tiger fauchte Angriff, die Tiere waren bereit, sich zu beißen. »Tigra! Takur!« Die beiden kamen um ein weniges auseinander, und Ronald sprang dazwischen, so daß er sie beide im Auge hatte. »Tigra! Takur!«
    Das stumme Ringen der Willenskräfte dauerte eine ganze Minute. Die beiden Tiger und der Mann wirkten wie eine Bronzegruppe. Nur das leise, heiser rollende Fauchen verriet, daß die Tiere lebten. Dann gab der Tiger nach, seine Muskeln wurden schlaffer, und er schloß die Schnauze.
    »Tigra ­ Platz!«
    Die Tigerin wandte sich, als sei sie ein gescholtenes Kind, und sprang auf ihren Hocker.
    »Takur! Allez!«
    Der Befehl war hart, und Ungehorsam war ausgeschlossen. Der Tiger sprang auf den Absprunghocker und dann kurz und leicht durch den brennenden Reifen.
    »Brav, Takur, brav!«
    Der Tiger begab sich auf seinen Platz.
    Es folgten die Leistungen der Löwen, die von den beiden Tigern auf den Hockern mit Knurren und Zähnefletschen begleitet wurden. Als Bello seinen Reifensprung ausgeführt hatte, kam er zu dem Dompteur und strich ihm um die Knie.
    »Rhhh …« Das war Tigra.
    Ronald kraulte Bello in der Mähne. Die starren Mienen der Zuschauer lösten sich. Da und dort zeigte sich ein befreites Lächeln. Tigra aber war anderer Stimmung.
    »Rhhh …«
    »Platz!«
    Die Tigerin zog die Pfote, mit der sie schon hatte heruntersteigen wollen, wieder zurück. Aber sie hatte sich mit der Situation offenbar noch nicht abgefunden.
    Die Musik intonierte einen leisen Walzer.
    »Allmächtiger Gott«, sagte Tante Betty. »Es ist großartig. Wenn es nur schon vorbei wäre!«
    Ronald gab einen Wink, das Fallgitter zu öffnen. Die Tiere zogen ab. Nur Tigra hatte er noch in der Manege behalten.
    »Tigra! Komm.«
    Die Tigerin kam. Ronald streichelte sie. Die Musik setzte wieder aus. Ronald streichelte weiter. Er ließ die Hand von der Zunge berühren und legte sie dem Raubtier in die Schnauze.
    Aus dem dunklen Hintergrund des Manegenausgangs schaute Harka noch immer zu. Er hatte bis jetzt kaum ein Lid gerührt. Wenn sich nur jetzt, in diesem Augenblick, auch kein anderer rührte. Wenn das Tier erschreckt wurde, konnte es wider Willen zubeißen. Ronald bog den Unterkiefer des Raubtieres zurück und hielt den Oberkiefer mit der Linken. Dann legte er langsam, ganz behutsam, den Kopf zwischen die Kiefer. Tigra hielt still. Unbeschädigt nahm der Mann den Kopf wieder aus dem Rachen.
    »Brav, Tigra, brav!«
    Er legte sich hin und spielte mit der großen Katze. Cate und Douglas atmeten auf, und weit im Hintergrund, wo ihn niemand sah, rührte sich Harka. Die Musik nahm den Walzer wieder auf. Beifall erklang erst zögernd, da niemand wußte, ob er damit störte, wurde lauter, und als Ronald aufsprang und die Hand wie als Gruß eines siegreichen Gladiators hob, donnerte das Klatschen, Trampeln und Rufen wie das Donnern des Mississippi, wenn er die Wasserfälle hinabstürzte.
    »Ganz große Klasse«, sagte einer der gepflegten Herren. »Diesen Mann brauchen wir unbedingt.«
    Zögernd, mit Bedauern, entfernte sich Tigra durch den Laufkäfig. Ronald mußte zwölf Hervorrufen folgen und seine Tigerin noch einmal hereinrufen. Sie stellte sich neben ihn, während er für den nicht endenden Beifall dankte, hob den Kopf und brüllte gegen den Beifall an, mit jenen Lauten tief aus der Kehle, die in nächtlicher Wildnis Tiere und Menschen wecken und erzittern lassen. Sie brüllte ein zweitesmal, bis der Beifall in erwartendem Staunen erlosch; dann schaute sie sich triumphierend um. Sie hatte die Menschen, die sie haßte, mit ihrem Brüllen zum Schweigen gebracht.
    Als in der Manege das Gitter unter flotten Klängen und den Witzen der Clowns abgebrochen wurde, ging Ronald endgültig hinaus. Er sah Harka stehen, stützte sich einen Augenblick auf den

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