Der Weg ins Glueck
holen wollte, da dachte ich, mich trifft der Schlag!«
»Hat sich der Vater von dem armen Waisenkind eigentlich gemeldet?«, wollte Cousine Sophia wissen.
»Ja, im Juli kam ein Briefvon ihm«, sagte Rilla. »Darin steht, er hätte sofort zurückgeschrieben, nachdem er von Mr Meredith erfuhr, dass seine Frau tot ist und ich mich um das Baby kümmere. Aber er hätte nie eine Antwort bekommen und sich dann überlegt, dass sein Brief wohl verloren gegangen sein musste.«
»Zwei Jahre hat er gebraucht, bis er sich das überlegt hat«, sagte Susan spöttisch. »Manche Leute sind wirklich langsam im Denken. Dabei hatjim Anderson nicht einen Kratzer abbekommen, obwohl er schon zwei Jahre lang in den Schützengräben steckt. Dummheit schützt vor Torheit nicht, wie das alte Sprichwort sagt.«
»Er schrieb sehr nett über Jims und würde ihn gerne mal kennen lernen«, sagte Rilla. »Also schrieb ich ihm zurück, erzählte ihm alles über den kleinen Mann und schickte ihm ein paar Fotos mit. Nächste Woche wird Jims zwei Jahre alt und er ist wirklich ein kleiner Schatz.«
»Früher hattest du nicht gerade viel übrig für Babys«, bemerkte Cousine Sophia.
»Im Allgemeinen stimmt das immer noch«, gab Rilla zu. »Aber ich liebe Jims, und ich habe mich, zugegeben, gar nicht richtig freuen können, als Jim Anderson schrieb, er selbst wäre gesund und munter.«
»Du hast doch wohl nicht gehofft, der Mann wäre tot!«, rief Cousine Sophia mit entsetzter Stimme.
»Nein - nein, bestimmt nicht! Ich hatte bloß gehofft, er hätte Jims langsam vergessen, Mrs Crawford.«
»So, und deinem Vater würden dann die ganzen Kosten für seine Aufzucht blühen«, erwiderte Cousine Sophia vorwurfsvoll. »Ihr jungen Leute seid aber auch so was von gedankenlos!«
In diesem Augenblick kam Jims hereingerannt und sah mit seinen rosigen Wangen und seinen Löckchen so richtig zum Küssen lieb aus, dass sogar Cousine Sophia sich zu einer Art Kompliment herabließ: »Immerhin sieht er inzwischen einigermaßen gesund aus, zu rosig fast schon wieder - genau genommen irgendwie schwindsüchtig. Als du ihn hierher gebracht hast, hätte ich dir nie zugetraut, dass du es schaffst, ihn großzuziehen. Ich hab wirklich gedacht, das liegt dir nicht, und das habe ich auch zu Alberts Frau gesagt, als ich nach Hause kam. Da sagte Alberts Frau zu mir: «Rilla Blythe kann mehr, als du glaubst, Tante Sophia.« Genau das hat sie gesagt. »Mehr, als du glaubst.« Alberts Frau hat immer schon eine gute Meinung von dir gehabt.«
Cousine Sophia stieß einen Seufzer aus, als ob sie damit andeuten wollte, dass Alberts Frau mit dieser Meinung allein aufweiter Flur stand. Aber in Wirklichkeit meinte sie es nicht so. Sie mochte Rilla sehr gern, auf ihre eigene melancholische Weise. Aber den jungen Leuten durfte man nicht allzu sehr schmeicheln. Was für eine verdorbene Gesellschaft sollte dann bloß daraus werden.
»Erinnerst du dich noch an deinen Heimweg vom Leuchtturm, heute vor genau zwei Jahren?«, flüsterte Gertrude Oliver Rilla zu und grinste.
»Ich denke schon«, sagte Rilla lächelnd und ihr Lächeln wurde langsam ganz verträumt und geistesabwesend. Sie erinnerte sich noch an etwas anderes - die Stunde, die sie mit Kenneth am Sandstrand verbrachte. Wo Ken wohl heute Abend war? Und Jem und Jerry und Walter und all die anderen Jungen, die im Mondschein auf dem alten Leuchtturm von Four Winds getanzt hatten und so fröhlich gewesen waren. Es war ihr letzter fröhlicher und unbeschwerter Abend gewesen. Schlammige Schützengräben an der Front der Somme, der Donner der Geschütze und das Stöhnen verwundeter Männer an Stelle von Ned Burrs Geigenspiel, der Blitz der Leuchtkugeln an Stelle der silbrig glitzernden Bucht. Zwei von ihnen lagen unter Pappeln in Flandern begraben: Alec Burr aus Upper Gien und Clark Manley aus Lowbridge. Andere lagen verwundet in den Lazaretten. Aber die Jungen vom Pfarrhaus und von Ingleside waren bis jetzt verschont geblieben. Sie schienen wie durch einen Zauber unverwundbar zu sein. Doch die bange Sorge ließ nicht nach, auch wenn der Krieg sich über Wochen und Monate immer weiter hinzog.
»Es kommt einem vor wie ein Fieber, gegen das sie immun geworden sind, nachdem sie zwei Jahre lang davon verschont blieben; aber das ist ein Irrglaube«, seufzte Rilla. »Die Gefahr ist immer noch genauso vorhanden und genauso groß wie am ersten Tag, als sie in die Schützengräben kamen. Das weiß ich und es quält mich jeden Tag aufs Neue. Und
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