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Der Weg ins Glueck

Titel: Der Weg ins Glueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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trotzdem glaube ich fest daran, dass sie durchkommen, wo sie doch so lange Zeit unverletzt geblieben sind. Ach, Miss Oliver, wie es wohl ist, wenn man morgens aufwacht und keine Angst haben muss vor den Meldungen, die der Tag bringt? Irgendwie kann ich mir das überhaupt nicht mehr vorstellen. Und heute vor zwei Jahren bin ich aufgewacht und habe mich gefragt, was für ein wunderbares Geschenk mir der neue Tag wohl bringen würde. Das istjetzt aus den zwei Jahren geworden, von denen ich glaubte, ich würde nichts als Spaß haben.«
    »Würdest du denn im Nachhinein mit zwei Jahren voller Spaß tauschen wollen?«
    »Nein«, sagte Rilla nachdenklich. »Nein. Ist das nicht merkwürdig? Es waren zwei schreckliche Jahre, und doch geben sie mir ein seltsames Gefühl tiefer Dankbarkeit - als ob sie mir etwas sehr Wertvolles gegeben hätten trotz allen Leids. Ich würde nicht umkehren und wieder das Mädchen sein wollen, das ich vor zwei Jahren war, auch wenn das möglich wäre. Nicht, dass ich mir einbilde, irgendeinen überwältigenden Fortschritt gemacht zu haben, aber ich bin doch nicht mehr ganz das selbstsüchtige, oberflächliche Ding, das ich damals war. Wahrscheinlich habe ich auch damals eine Seele gehabt, Miss Oliver, aber ich habe es nicht gewusst. Jetzt weiß ich es, und das ist mir sehr viel wert. Dafür hat sich das Leiden in den letzten beiden Jahren gelohnt. Aber trotzdem«, Rilla lachte, wie um sich zu entschuldigen, »trotzdem möchte ich nicht mehr leiden müssen, auch nicht dem Wachstum meiner Seele zuliebe. Vielleicht werde ich in zwei Jahren zurückblicken und dankbar sein für die Entwicklung, die sie mir gebracht haben; aber jetzt habe ich genug.«
    »Das ist immer so«, sagte Miss Oliver. »Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum wir die Wege unserer eigenen Entwicklung nicht selbst bestimmen können. Aber wie sehr wir auch das, was wir in unseren Unterrichtsstunden gelernt haben, zu schätzen wissen, so wollen wir doch die beschwerlichen Lehrjahre hinter uns lassen. Lass uns einfach das Beste hoffen, wie Susan sagt. Im Augenblick läuft ja alles gut, und wenn Rumänien dazukommt, dann ist vielleicht alles so plötzlich zu Ende, dass wir es gar nicht werden fassen können.«
    Rumänien kam dazu, und Susan stellte mit Genugtuung fest, dass sie noch nie ein so schönes Foto von einem Königspaar gesehen hätte. So ging der Sommer vorüber. Anfang September kam die Nachricht, dass die Kanadier an die Front an der Somme verlegt worden seien, und da wuchs die Sorge aufs Neue. Zum ersten Mal war Anne fast so weit, den Mut zu verlieren, und als die Ungewissheit mit jedem Tag größer wurde, machte Gilbert sich Sorgen um sie und ermahnte sie, sich nicht zu viel Arbeit fürs Rote Kreuz aufzuhalsen.
    »Ach, lass mich doch, Gilbert, lass mich arbeiten«, flehte sie ihn an. »Wenn ich arbeite, dann denke ich nicht so viel nach. Wenn ich die Hände in den Schoß lege, dann stelle ich mir alles Mögliche vor. Es ist mir nur eine Qual, wenn ich mich ausruhe. Meine beiden Söhne sind an der schrecklichen Somme-Front und Shirley steckt Tag und Nacht die Nase in Bücher über Luftfahrt und sagt kein Wort. Aber ich sehe ihm an, was ihm vorschwebt. Nein, ich kann mich nicht ausruhen - verlang das bitte nicht von mir, Gilbert.«
    Aber Gilbert ließ nicht mit sich reden. »Ich kann doch nicht Zusehen, wie du dich umbringst, mein Anne-Mädchen«, sagte er. »Wenn diejungen nach Hause kommen, dann möchte ich, dass sie hier eine Mutter vorfinden, die sie freudig begrüßt. Du wirst immer blasser. Das geht doch nicht. Frag Susan, die wird dir dasselbe sagen.«
    »So, du und Susan, ihr habt euch wohl gegen mich verschworen!«, sagte Anne hilflos.
    Eines Tages kam die wunderbare Nachricht, dass die Kanadier Courcelette und Martenpuich eingenommen hätten. Und sie hätten viele Gefangene gemacht und Waffen erbeutet. Susan hisste die Flagge und sagte, da könne man mal sehen, wie sorgfältig Haig seine Soldaten ausgewählt habe. Die anderen wagten nicht sich zu freuen. Wer weiß, wie hoch der Preis gewesen war?
    Rilla wachte frühmorgens auf, als es gerade anfing zu dämmern. Verschlafen ging sie zum Fenster und schaute hinaus. Bei Tagesanbruch sieht die Welt ganz anders aus als zu jeder anderen Tageszeit. Die Luft war kalt und feucht und der Obstgarten, das Ahornwäldchen und das Regenbogental sahen aus wie verzaubert. Über dem Hügel im Osten waren kleine goldschimmernde Täler und rosa-silberne Schatten zu sehen. Kein

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