Der Weg ins Glueck
so gut ich kann.«
»Eigentlich könnte ich genauso gut zu Hause bleiben, die Kirche nützt mir heute doch nichts«, sagte Miss Oliver zu Rilla, während sie den hart gefrorenen Weg zur Kirche hinuntergingen. »Mir geht ja doch nur ständig die Frage durch den Kopf, ob die Front noch halten wird oder nicht.«
»Nächsten Sonntag ist Ostern«, sagte Rilla. »Wird es uns Tod oder Leben verkünden?«
Mr Merediths Predigt an diesem Morgen drehte sich um das Zitat: »Wer ausharrt bis zum Ende, der wird gerettet werden«, und aus seiner Rede klangen Hoffnung und Zuversicht. Als Rillas Blick auf die Gedenktafel an der Wand über ihrem Familienstuhl fiel mit der Aufschrift »zum heiligen Gedenken an Walter Cuthbert Blythe«, da fühlte sie sich auf einmal nicht mehr so voller Angst, sondern schöpfte neuen Mut. Walter konnte doch sein Leben nicht umsonst gelassen haben. Er hatte die Gabe der Vorhersehung besessen und den Sieg kommen sehen. An diesem Glauben würde sie festhalten: Die Front würde halten!
Ihre Stimmung war fast heiter, als sie den Heimweg antrat. Auch die anderen waren voller Hoffnung und kehrten guten Mutes nach Ingleside zurück. Im Wohnzimmer trafen sie niemanden an, außer Jims, der auf dem Sofa eingeschlafen war, und Doc, der mit finsterer Miene auf dem Kaminvorleger ruhte und verdächtig hydisch aussah. Auch im Esszimmer war niemand, und, was noch merkwürdiger war, der Tisch war leer, kein Essen und noch nicht einmal Geschirr stand darauf. Wo steckte Susan?
»Sie ist doch nicht etwa krank geworden?«, rief Anne besorgt. »Es kam mir schon so sonderbar vor, dass sie heute Morgen nicht zur Kirche gehen wollte.«
Da ging die Küchentür auf, und Susan erschien auf der Schwelle, so totenbleich, dass Anne vor Schreck aufschrie. »Susan, was ist denn?«
»Die britische Front ist gebrochen und die Deutschen bombardieren Paris«, sagte Susan wie teilnahmslos.
Die drei Frauen sahen einander fassungslos an.
»Das ist nicht wahr, nein, das ist nicht wahr!«, rief Rilla.
»Das - das wäre doch lächerlich«, sagte Gertrude Oliver, dann lachte sie in einem ganz schrecklichen Ton auf.
»Susan, wer hat das gesagt? Wann hast du diese Nachricht gehört?«, fragte Anne.
»Vor einer halben Stunde über ein Ferngespräch aus Charlottetown«, sagte Susan. »Gestern am späten Abend drang die Meldung zur Stadt durch. Dr. Holland hat sie weitergegeben, und er sagte, es sei leider die Wahrheit. Seitdem habe ich nichts mehr tun können, liebe Frau Doktor. Es tut mir Leid, dass das Essen nicht fertig ist. Es ist das erste Mal, dass ich so nachlässig bin. Wenn Sie ein wenig Geduld haben, dann mache ich Ihnen schnell was zurecht. Ich fürchte nur, dass mir die Kartoffeln anbrennen werden.«
»Essen! Niemand will jetzt etwas essen, Susan!«, brauste Anne auf. »Oh, das kann einfach nicht wahr sein, es muss ein Alptraum sein!«
»Paris ist verloren, Frankreich ist verloren, der Krieg ist verloren!«, stieß Rilla verzweifelt hervor. Hoffnung und Zuversicht schienen dahin.
»O Gott, o Gott!«, rief Gertrude Oliver und lief händeringend im Zimmer auf und ab. »O Gott!«
Nichts sonst, keine weiteren Worte, nichts als die uralte Klage - der qualvolle, flehende Schrei aus dem Herzen eines Menschen, der jegliche Stütze verloren hat.
»Ist Gott tot?«, fragte eine helle, aufgeschreckte Stimme von der Schwelle des Wohnzimmers aus. Jims war aufgewacht und stand da mit roten Wangen und großen erschrockenen Augen. »Oh Willa - oh Willa, ist Gott tot?«
Miss Oliver hielt inne und starrte Jims an, dessen Augen sich vor Angst mitTränen füllten. Rilla lief zu ihm, um ihn zu trösten, während Susan aus dem Sessel aufsprang, in den sie sich hatte fallen lassen.
»Nein!«, sagte sie entschlossen und kam mit einem Schlag wieder zu sich. »Nein, Gott ist nicht tot, auch nicht Lloyd George. Das haben wir vergessen, liebe Frau Doktor. Weine nicht, Klein Kitchener. So schlimm es auch steht, es könnte schlimmer sein. Auch wenn die britische Front gebrochen ist, die britische Marine ist es nicht. Das sollten wir bedenken. Ich werde mich zusammenreißen und eine Kleinigkeit zu essen machen, denn Kraft müssen wir haben.«
Sie gaben sich Mühe, Susans »Kleinigkeit« zu essen, aber Appetit hatte niemand. Dieser schwarze Nachmittag sollte allen auf Ingleside in ewiger Erinnerung bleiben. Gertrude Oliver lief wieder auf und ab. Nur Susan zog ihren grauen Kriegsstrumpf hervor.
»Liebe Frau Doktor, ich muss jetzt doch am heiligen
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