Der Weg ins Glueck
Sonntag stricken. Das wäre mir zuvor niemals in den Sinn gekommen, weil ich immer dachte, das wäre eine Übertretung des dritten Gebots. Aber egal, ob es eine Sünde ist oder nicht, heute muss ich stricken, sonst werde ich noch verrückt.«
»Dann strick du nur, Susan«, sagte Anne rastlos. »Ich würde auch stricken, wenn ich könnte. Aber ich kann nicht, ich kann nicht.«
»Wenn wir doch bloß Genaueres erfahren könnten«, sagte Rilla. »Vielleicht könnte uns das Mut machen, wenn wir alles wüssten.«
»Wir wissen, dass die Deutschen Paris bombardieren«, sagte Miss Oliver verbittert. »Das heißt, sie müssen überall durchgebrochen sein und direkt vor den Toren der Stadt stehen. Nein, wir haben verloren. Dieser Tatsache müssen wir ins Auge sehen, so wie andere Völker in der Vergangenheit sich damit abfinden mussten. Andere Nationen, die das Recht auf ihrer Seite hatten, haben ihr Bestes gegeben und sich tapfer geschlagen, und doch wurden sie besiegt und sind untergegangen. Unser Schicksal ist nur eines von Millionen, die vergeblich gekämpft und verloren haben.«
»Nein, so schnell gebe ich nicht auf!«, rief Rilla und ihr blasses Gesicht nahm plötzlich Farbe an. »Ich werde nicht verzweifeln! Wir sind nicht besiegt - nein, wenn Deutschland auch ganz Frankreich niederrennt, heißt das nicht, dass wir besiegt sind! Ich schäme mich, dass ich mich so habe gehen lassen. Das soll mir nicht noch einmal passieren. Sofort werde ich in die Stadt telefonieren und mich nach Einzelheiten erkundigen.«
Aber Rilla kam nicht durch. Die Leitung war überlastet, weil von überall aufgeregte Leute mit demselben Anliegen anriefen. Rilla gab schließlich auf und stahl sich davon ins Regenbogental. Dort kniete sie in dem welken, grauen Gras des kleinen Schlupfwinkels nieder, wo sie und Walter sich zuletzt getroffen hatten. Sie lehnte den Kopf an den moosbewachsenen Stumpf eines umgestürzten Baumes. Die Sonne hatte die schwarzen Wolken durchbrochen und tauchte das Tal in herrliches, goldschimmerndes Licht. Die Glocken auf den Drei Liebenden glitzerten koboldhaft und schelmisch im stürmischen Märzwind.
»O Gott, gib mir Kraft«, flüsterte Rilla. »Einfach nur Kraft - und Mut.« Dann faltete sie wie ein Kind die Hände und sagte so einfach, wie Jims es auch hätte sagen können: »Bitte schicke uns morgen bessere Nachrichten.«
Sie kniete dort eine ganze Weile, und als sie nach Ingleside zurückkehrte, war sie ruhig und entschlossen. Gilbert war zurückgekommen, müde, aber froh, dass der kleine Douglas Haig Marwood sicher am Strand der Zeit gelandet war. Gertrude ging immer noch unruhig auf und ab, aber Anne und Susan hatten sich von dem Schock erholt, und Susan entwarf bereits eine neue Verteidigungslinie für die Kanalhäfen. »Solange wir die Häfen verteidigen können«, erklärte sie, »solange ist die Lage gerettet. Paris hat doch eigentlich keine militärische Bedeutung.«
»Hör auf!«, rief Gertrude aus, als ob Susan mit irgendetwas auf sie eingestochen hätte. Sie empfand den alten, abgedroschenen Ausdruck »keine militärische Bedeutung« als geradezu abscheulichen Hohn unter den gegebenen Umständen und noch unerträglicher als die Stimme der Verzweiflung. »Ich habe oben bei den Marwoods erfahren, dass die Front gebrochen ist«, sagte Gilbert. »Aber dass die Deutschen Paris bombardieren sollen, das kommt mir ziemlich unwahrscheinlich vor. Selbst wenn sie durchgekommen wären, könnten sie höchstens fünfzig Meilen vor Paris sein, und wie sollten sie ihre Artillerie in so kurzer Zeit nah genug heranbekommen, um mit Kanonen zu schießen? Verlasst euch drauf, Mädchen, dieser Teil der Meldung kann nicht stimmen. Ich werde selber mal versuchen telefonisch durchzukommen.«
Aber Gilbert hatte auch nicht mehr Erfolg als Rilla. Seine Ansicht munterte sie alle immerhin ein wenig auf, sodass sie bis zum Abend aufatmen konnten. Um neun Uhr kam endlich ein Ferngespräch zu Stande und die Meldung verhalf ihnen zu einer ruhigen Nacht.
»Die Front ist nur an einer Stelle gebrochen, nämlich vor St. Quentin«, sagte Gilbert, als er den Hörer einhängte. »Und die britischen Truppen ziehen sich nach und nach zurück. Das ist nicht so schlimm. Was die Bomben angeht, die auf Paris niedergehen, die kommen aus einer Entfernung von siebzig Meilen - von irgendeinem erstaunlichen Langstreckengeschütz, das die Deutschen erfunden haben und das sie jetzt mit dem Beginn der Offensive zum ersten Mal eingesetzt haben. Das sind
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