Der Weg nach Xanadu
Zeitrechnung vor Anna, hätte
mich allein die Tatsache, daß eine Frau, der ich nicht gänzlich abgeneigt
gewesen wäre, die Verklärte Nacht gemocht hätte, zu einem
hingestammelten Antrag veranlaßt. Heute schwieg ich.
Als die ersten Töne dieser
Musik mich erreichten — Martin war schon beim dritten Glas — , löste sich das
Entsetzen langsam auf und gab einer Traurigkeit Raum, die, passend zu meinem
Anzug, mit flanellgrauer Stimme zu mir sagte: »Entweder sie ist ein Gespenst,
dann holt sie dich heim. Oder sie ist ein Mensch, dann wirst du es nie ertragen
können, daß sie nicht dich liebt. Wie auch immer, deine Zukunft wird zur
Geisterbahnfahrt.«
»Eigentlich«, sagte ich,
nachdem ich mich wieder zusammengebastelt hatte, »ist die Verklärte Nacht gar nicht traurig.« Es folgte Dozierendes über das Gedicht, das der Komposition
zugrunde lag, über das Zugrundegehen an Lüge und Eifersucht, und das
Auf-den-Grund-Gehen, das in Dehmels Text, in alter romantischer Apotheose der
Ehrlichkeit, in einer Beichte endet. »Sie gesteht ihm, daß das Kind, das sie
trägt, nicht von ihm ist. Und nach einem grandiosen Aufwallen von Schmerz kann
er ihr verzeihen. Sein Verzeihen macht ihn wieder groß, und sie kann ihn in
seiner neugewonnenen Größe wieder lieben. So wird der Spaziergang am Ufer des
mondbeschienenen Sees für beide zu einer verklärten Nacht, zu einem Bündnis
fürs Leben.« War das gut gesetzt? Oder zuviel? Heiliger Dehmel steh mir bei.
Seliger Schönberg bitte für mich. »Ich könnte so was nie verzeihen«, sagte
Martin. Beide schauten wir auf Anna. Sie überlegte kurz, strich sich mit einer
Geste, die mich seither in meinen Träumen verfolgt, eine schwarze Strähne aus
der Stirn und verstaute sie hinter dem Ohr, nur um sie bei nächster Gelegenheit
wieder hervorzuschütteln. »Und ich könnte so was niemals tun. Niemals.« Zeit
für mich, die Suppe zu servieren.
Ich legte die Sketches Of Spain auf, die kannte sie nicht. Anna hatte, wie sie beim Bordeaux zwischen Suppe und
Wellington erzählte, lange daran gedacht, Kinderärztin zu werden. Damals war
sie sechzehn, konnte gleichaltrige Jüngelchen (Burschen, wie sie sagte) nicht
ausstehen und war mit einem Münchner Medizinstudenten liiert, der nicht fertig
werden wollte und immer wieder die gleichen Kurse belegte, weil ihm das
Sezieren so gefiel. Er wurde am Ende von der Fakultät gefeuert, weil er
nachweislich einen weiblichen Oberschenkelknochen hatte mitgehen lassen und als
Knüppelschaltung in seinen VW eingebaut hatte. (Konnte das wahr sein? Oder
hatte sie es gerade erfunden, um uns, nein ihn, zum Lachen zu bringen? Aber er
lachte ja gar nicht.) Der Wein lockerte die Nähte, die unsere Schädeldecken
zusammenhielten, Miles Davis blies uns seine Version des Konzertes von Aranjuez
wie ein Voodoopulver in die Ohren, Anna strich sich die magische Strähne aus
der Stirn und redete, redete, während Martin ungeduldig in den Startlöchern
saß, bereit für eine Coleridge-Fachsimpelei unter Männern. Aber ich, ich
lauschte Anna. Einen großen Hyazinthara wollte sie damals im Vorzimmer sitzen
haben, blauschimmernd, einen, der die Kinder ablenkt und verzaubert; der ist
besser, sagte sie, als ein Graupapagei, weil die sich zwar dreihundert Wörter
merken und nachsprechen können, aber es nie tun, wenn mehr als einer zuhört.
Und was ist ein Graupapagei, der nicht spricht, gegen einen Hyazinthara, der
auch nicht spricht, aber leuchtet?
Nachdem sie ihren
Medizinstudenten mit einer flaumbärtigen Tierpräparatorin in seinem Heimzimmer
überrascht hatte, als die ihm gerade zeigte, wie man ein Eichhörnchen ausnimmt,
hatte ihr Ekel die Oberhand gewonnen. Anna war nach wiederholtem Klopfen ins
Zimmer getreten, ihr Besuch hätte eine Überraschung werden sollen, und da saßen
sie, die Bärtige mit einem Skalpell über einen Eichhörnchenkadaver gebeugt, und
Annas Liebster, mit entregelten Sinnen dem Verlauf ihrer Schnitte folgend. Sie
hatte ihm noch eine tote Ratte geschickt, eingewickelt in ein Schnittmuster,
das sie aus einer Frauenzeitung ihrer Mutter herausgerissen hatte, und das wars
dann. »Ich weiß immer noch nicht, warum ich nachher gleich die ganze Idee,
Kinder zu heilen, zum Kotzen gefunden habe. Und jetzt studiere ich eben Astronomie.«
Anna zog ihre roten Riemenschuhe aus und war fortan barfuß.
Martin wurde unruhig.
Fünfzehn »Ich entsinne mich, in einer Studie über Swinburne gelesen zu haben, wie er an
einem Sommerabend, als er mit Watts Dunton
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