Der Weg nach Xanadu
gehören.
Es war sechs Uhr morgens, als
ich die Wohnungstür hinter mir zufallen ließ.
Ich spazierte Richtung
Westbahnhof, die nasse Straße reflektierte das Mondlicht. Entschuldigen Sie,
Frau Selene, was sind Sie denn im Sternzeichen? Würden Sie die Güte haben, mir
einen Kübel von Ihrem flüssigen Silber abzutreten, er wäre hier unten spielend
zu Geld zu machen, Sie wissen schon, die Sterblichen mit ihrem
Mondfetischismus. Haare schneiden zu bestimmten Mondphasen, keltische
Nachtgöttinnen beschwören, Rebirthing in Moonligbt. Ja, danke, Madame
Selene, ich weiß schon, mir fehlt die Voraussetzung, um mit Ihnen Geschäfte
machen zu können, dieses Guter-Mond-du-gehst-so-stille-Naturvertrauen. Dann
eben nicht. Ist ja ohnehin alles nur Imitat, glitzernder Ramsch, wie die
silbernen Delphine oder Schauspielermasken in den Schaufenstern der
Allerweltsjuweliere vor dem Westbahnhof. Vielleicht sind Sie ja auch nur ein
Käse in Alufolie.
Anna war weg. Gegangen. Mit
ihm. Trotz allem. Was hätte ich sonst erwarten können?
Achtzehn Das erste Wesen, mit dem ich nach dem Dinner Kontakt aufnahm, und auch das nur,
weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich das Erlebte nun als Niederlage
oder als Teilerfolg in den Ganglien zu verstauen hatte, war Daniel, ein für
meine Verhältnisse fast als Freund zu bezeichnender Mensch, der in Salzburg
seine, wie er sagte, Lebensabendzelte aufgeschlagen hatte und mit dem ich
zumindest alle zwei Monate telefonierte. Vor einiger Zeit, im April oder Mai
vergangenen Jahres, hatte ich ihn sogar besucht. Daniel war Anfang fünfzig,
aber seit er mit siebzehn von einer rüden Schulmedizinerin gehört hatte, daß er
es aufgrund einer chronisch gewordenen Sehnenverhärtung im Sprunggelenk in seiner
einzig wahren Bestimmung, dem Zehnkampf, bestenfalls zum Invalidenchampion
bringen würde, hatte er sein Leben abgehakt. Alles, was danach noch kommen
konnte, war Ersatz. Und Ersatz war seiner nicht würdig. Die Wahrheit war das
Urteil, das sein Körper über ihn gefällt hatte. Nach all den Erfolgen bei den
Schülermeisterschaften: nie mehr Stabhochsprung, kein Hürdenlauf mehr, der
Speer für immer verflogen. Unfähigkeit, Verfall, Verwesung. Für Daniel gab es
nur noch Todesmenetekel im Dreierpack. Selbst in den Träumen, sagt Daniel,
kommen die Wörter zu dritt. Zuerst immer schwarzweißes Stummfilmgeflimmer, dann
taucht ein Krebsarzt durch die Wände des Wartezimmers, gebiert die Geliebte
einen Laufschuh mit blutigen Spikes, mißt ein Sportwart mit Fußknöchelchen
meinen Diskurswurf. Sie sind letzter, sagen sie dann, deine Ferse blutet, Sie
haben Sehnenkrebs.
Daniel pflegte auf eine Weise
mit seinem kurz bevorstehenden Ableben zu kokettieren, die mich als Methode,
den Tod vorauseilend zu überlisten, überzeugte. Wenn einer ewig leben würde,
dann Daniel, der Moribunde.
Er hatte die Angewohnheit,
jeden Abend vor dem Zubettgehen seine Füße mit von essigsaurer Tonerde
durchtränkten Geschirrtüchern zu umwickeln, seit jener Zeit nicht aufgeben
können, sodaß ich mich bei den gelegentlichen Übernachtungen in seiner Wohnung
fühlte wie ein resistenter Keim in einer frisch gereinigten Espressomaschine.
Müßig zu erwähnen, daß Daniel
sein sogenanntes wirkliches Leben ohne größere Probleme meisterte. Er war Chef
der Sportredaktion einer angesehenen Zeitung, eine Art Guru des Sportessays,
ernährte sich von widerlichen Thunfisch- oder Truthahnsalaten, die ihm allen
Ernstes zu schmecken schienen, liebte seine exklusiven Grappas, verdiente doppelt
soviel wie ich, war als Silberschläfentyp nicht unbegehrt — also, obwohl
subjektiv eine in Essigtücher gewickelte, vor dem Altar seiner Jugend in einen
Sarkophag gesteckte Mumie, die unentwegt einem gelangweilten Osiris die
Wichtigkeit seiner redundanten Alpträume herzubeten gezwungen war, objektiv ein
Lebemann mit erstaunlich hoher Erfolgsquote auf fast allen Ebenen. Sein
einziges Laster neben dem Grappa war eine schwer zu erklärende Obsession für
Science-fiction-Müll, je banaler, desto besser, mit der er seine Umwelt zu
infizieren trachtete. Seit Jahren war er nicht mehr krank gewesen.
Wir trafen uns im Café Bazar,
ich war ein wenig zu früh dran und hatte schon meinen Einspänner bestellt, als
Daniel zur Tür hereinflog, braungebrannt mitten im Winter, den Schnee im Lokal
vom Schirm schüttelte, mich umarmte und sich in die Sitzbank fallen ließ.
»Diese Feuchte«, so lautete seine Begrüßung, »bringt mich noch um. Sei
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