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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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den Kirchhof von All Saints besuchte,
weit draußen auf der Oberfläche ein grünliches Leuchten zu sehen glaubte.
Dieses Leuchten, soll er gesagt haben, erinnere ihn an den Palast des Kublai
Khan, der auf dem Platz des späteren Peking erbaut worden war in derselben
Zeit, in der Dunwich eines der größten Gemeinwesen im englischen Königreich
gewesen ist. Wenn ich nicht irre, war in der fraglichen Studie davon die Rede,
wie Swinburne den sagenhaften Palast Watts Dunton in allen Einzelheiten
beschrieben hat: die über vier Meilen lange schneeweiße Mauer, die mit Zaum-,
Sattel- und Rüstzeug jeder Art gefüllten Festungsarsenale, die Lager- und
Schatzhäuser, die Stallungen, in denen in unübersehbaren Reihen die schönsten
Pferde standen, die Festsäle, die Platz hatten für mehr als sechstausend Gäste,
die Wohngemächer, den Tierpark mit dem Einhorngehege und den dreihundert Fuß
hohen Aussichtsberg, den der Khan an der Nordseite hatte aufschütten lassen.
Die steilen Abhänge dieses ganz mit grünem Lapislazuligestein bedeckten Kegels,
so erzählte Swinburne angeblich, sei innerhalb eines Jahres bestückt worden mit
den prächtigsten und seltensten Exemplaren voll ausgewachsener immergrüner
Bäume, die, nachdem man sie an ihren Standorten samt Wurzelwerk und Erdreich
ausgegraben hatte, oft über weite Strecken hertransportiert werden mußten von
eigens für diesen Zweck abgerichteten Elefanten. Nie zuvor und nie seither,
soll Swinburne an jenem Abend in Dunwich behauptet haben, sei auf der Welt
etwas Schöneres geschaffen worden als der selbst mitten im Winter grüne, von
einem gleichfalls grünfarbenen Ruheschloß gekrönte künstliche Berg.«
     
    W. G. Sebald,
aus: Die Ringe des Saturn, 1995.

Sechzehn Martin hatte mittlerweile versucht, sich mit Annas Sturmläufen und seiner
eigenen Abseitsposition abzufinden. Es gelang ihm nicht ganz. Nicht nur, daß
die vorprogrammierten Themen des Abends, Martins Arbeit und Martins Ideen,
nicht einmal gestreift wurden und wir mittlerweile bei einer Neuauflage des
Diskussionsklassikers »Geistes gegen Naturwissenschaften« gelandet waren — das
Selbstbewußtsein, das seine Liebste seinem künftigen Doktorvater gegenüber an
den Tag legte, war für ihn sichtlich ebenso befremdend wie die Ironie, mit der
sie ihn selbst bedachte. »Wissen Sie«, sagte Anna, während sie mit schrägem
Kopf meine Regale musterte, ehe sie nach einem der Donauland-Schmöker aus
meiner Kindheit griff, die ich aus Sentimentalität nicht entsorgt hatte —
überdimensionale Bildbände mit bescheidenen Titeln wie Die großen Rätsel der
Erde, Die Welt, in der wir leben oder Alles über Tiere — , »für
Martin sind Zoologen auf Knien rutschende Gänsebeobachter mit Rauschebärten.
Und Astronomen Sonderlinge mit steifem Genick, Nachfahren von
Hans-guck-in-die-Luft«. Noch ehe Martin etwas erwidern konnte, schlug Anna den
Fotoband mit einer Heftigkeit auf, die dem alten Einband ein Geräusch
entlockte, ein befreit-bösartiges Seufzen, als hätte sie die Flasche eines
jahrhundertelang eingekerkerten Dschinns entkorkt. »Ist das nicht schöner als
jede Zeile, die man darüber schreiben kann?« Sie hielt uns die Doppelseite mit
der Aufnahme eines Schneeleoparden unter die Nase, und die Begeisterung meiner
Kindheit für alles, was bunt war und sich bewegte, wurde durch Annas Geste
ebenso an die Oberfläche meines Bewußtseins gespült wie die Überzeugung der
adoleszenten Jahre, daß gute Sätze die Welt aus den Angeln heben könnten. Die
Naivität dieser beiden Zugänge war ja im Verlauf meines Erwachsenwerdens von
einer bequemen Skepsis schließlich aufgehoben worden zugunsten von — ja,
zugunsten von was eigentlich?
    Das einzige, was ich wirklich
gut konnte, in intellektuellen Kampfgesprächen schneller, zynischer,
gnadenloser zu sein, verlor hier an Bedeutung und war auch nicht mehr abrufbar.
Sogar meine Löwenkreise konnten von Anna ohne Lebensgefahr zum Zentrum hin
überschritten werden. Daß sie ständig mit der Glut ihrer Zigarette nur knapp
die brennbaren Heiligtümer meiner Behausung verfehlte, störte mich keine
Sekunde lang. Sie hätte ein Zündholz am Rücken meiner Poe-Ausgabe von 1891
anreißen können wie ein Westernheld an seiner Stiefelsohle, ich hätte mich
nicht gerührt. Wie sie da in meiner Wohnung stand, kam sie mir vor wie meine
eigene Nachlaßverwalterin, die ein Streitgespräch zwischen meinen geldgierigen
Erben zu schlichten hatte. »Ist nicht«, sagte sie, knallte das Buch

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