Der Weg nach Xanadu
keine Rolle.
»Was ich eigentlich nur sagen
wollte«, Daniel wartete, bis sich meine Scham verzogen hatte und ich ihm in die
Augen sehen konnte, »ist folgendes: Ich fand es gut. Daß ich kein
Lyrik-Spezialist bin, weißt du, aber ich kann ein gutes Gedicht von einem
schwachen unterscheiden, und was ich gelesen habe, hat mich beeindruckt. Ich
war fast stolz auf dich.«
Freute ich mich? Ein bißchen
vielleicht. Aber der Alexander der Gedichte hatte nichts mehr mit dem von heute
zu tun. Gestorben und verscharrt. Nein, ich freute mich nicht. »Welches«,
fragte ich.
» Schlaf auf Steinen «,
sagte Daniel.
»Ogott«, sagte ich.
»Es ging um Alpträume«, sagte
Daniel. »Wie heute.«
»Dein Interesse«, sagte ich,
»ehrt mich, »und dein Urteil hätte mich vor fünfundzwanzig Jahren zweifellos
vor Stolz zerplatzen lassen. Aber worauf willst du hinaus, im Hic et Nunc ?«
Daniel erhob sich mit feierlichem Gestus, es gelang nicht ganz, er schwankte
schon ein bißchen. Seine Motorik war immer deutlich früher beeinträchtigt als
sein Sprachzentrum.
»Werte Anwesende, liebe
Lateinprofessoren. Es ist mir ein besonderes Vergnügen, in dieser erlesenen
Runde einen kleinen Vortrag halten zu dürfen mit dem Titel: Das geflügelte
lateinische Wort und seine adäquate Plazierung in gehobener Konversation. Ich
möchte meinen Exkurs beginnen mit Juvenal, von dem schon Seneca gesagt hatte,
oder war es umgekehrt...«
»Laß das«, sagte ich, griff mir
seinen Arm und zog ihn sanft auf die Couch zurück, »ich hab jetzt keine Lust
auf deine Kasperliaden. Komm zum Punkt.«
»Yessir«, sagte Daniel,
»obwohl: Punkt gibt es eigentlich keinen, eher verschiedene Linien, die sich an
manchen Stellen verknoten. Ich gehe davon aus, daß nichts von all dem, was du
jetzt zu hören bekommst, dich überraschen wird, aber die eine oder andere
Verknüpfung könnte dir, infolge des hohen Grades an Eigenverstrickung, doch
entgangen...«
»Nun breite ihn schon aus«,
sagte ich, »deinen fliegenden Teppich.«
»Der erste Faden«, sagte
Daniel, »läuft wie folgt: dein Coleridge schreibt großartige Gedichte, abartige
Visionen voller Wassergespenster und Demon Lovers, und er schreibt sie alle in
einem einzigen Jahr. Danach kein gelungener poetischer Text mehr, außer diese
Ode an die Depression.«
»Dejection«, sagte ich, »müßte
man eher mit Niedergeschlagenheit...«
»Unterbrich mich nicht«, sagte
Daniel, ganz aufgegangen in seiner Rolle als Zeremonienmeister der Großen
Zusammenhänge.
»Also weiter. Ein gewisser
Alexander Markowitsch schreibt gute Gedichte, ungefähr von seinem zwanzigsten
bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr. Danach nichts mehr. Coleridge
wandelt sich zum wirren Metaphysiker, Markowitsch zum braven, angesehenen
Schulmeister. Beide werfen jedenfalls die Lyrik auf die Müllhalde ihrer
persönlichen Geschichte, richten sich im bürgerlichen Leben ein und dämmern vor
sich hin. Und sind, wenn das gefährliche Wort gestattet ist, nicht eben
glücklich dabei.«
Ich wollte etwas erwidern, aber
ein Blick von Daniel vereitelte das.
»Zweiter Faden: Coleridge
schreibt dieses Khan-Gedicht nach einer anständigen Dosis Laudanum von einem
Traum ab, auch die Seeräuber-Ballade wurde, wenn ich mich an deine Worte
korrekt erinnere...«
»Der Ancient Mariner«, rief ich
endlich entsetzt dazwischen, »war doch kein Seeräuber!«
»Wie auch immer. Dann eben ein
Seemann. Jedenfalls auch von einem Traum inspiriert. Und Geraldine ist direkt
aus einem Alptraum ins Gedicht gesprungen. Herr Markowitsch hat jetzt auch
Alpträume, das Personal erinnert frappant an die Kopfgeburten des Herrn
Coleridge, und alle enden sie in einem Zimmer, das eher ins späte achtzehnte
oder frühe neunzehnte Jahrhundert paßt als in die Gegenwart.«
Daniel unterbrach sich kurz
selbst, warf einen traurigen Blick auf die leere Grappaflasche, aber ich machte
keinerlei Anstalten, darauf zu reagieren.
»Dritter Faden«, sagte Daniel
nach einem steinerweichenden Seufzer, »STC gerät, von flüchtigen früheren
Begegnungen abgesehen, nicht zufällig in Alexanders Leben, sondern durch einen
Studenten, dessen Liebste bei unserem Professorchen die Sicherungen
durchknallen läßt. Er fühlt sich aber nicht nur wider jede Vernunft zu ihr
hingezogen, sondern beobachtet erstaunliche Vorgänge. Die fremde Dame bewegt
sich nämlich in seinen Räumlichkeiten, als wäre ihr alles zutiefst vertraut.
Zudem sendet sie ambivalente Botschaften, die auch
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