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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Zeit für die ersten
organisatorischen Vorarbeiten. Beim momentanen Stand meiner Recherchen kamen
drei Häuser in Frage. Am unwahrscheinlichsten: das Ship Inn in Porlock; es
stand allein deswegen auf meiner Liste, weil es noch existierte. Und irgendwo
in Porlock hauste ja vielleicht ein Nachfahre der berüchtigten person on
business, die die Traumabschrift von Kubla Khan unterbrochen hatte. Schon
vielversprechender: die Farm, auf der Coleridge sein Gedicht geträumt und
verfaßt hatte; obwohl sich die Forschung noch nicht endgültig einig war,
vermuteten die meisten Autoren, daß es sich dabei um die Ash Farm handeln
mußte. Nur eine verschwindend kleine Minderheit favorisierte die Yearnor Farm.
    Die meisten Hinweise sprachen
für das Coleridge Cottage in Nether Stowey; die Räume waren, wie ich gelesen
hatte, noch unverändert, ein kleiner Anbau war hinzugekommen, aber die
Grundsubstanz des Gebäudes war erhalten geblieben. Es gehörte wie das Dove
Cottage dem National Trust, der darin ein allerdings weit bescheideneres Museum
eingerichtet hatte. Coleridge hatte während des gesamten annus mirabilis dort
gewohnt, insgesamt von 1797 bis 1800, der Ancient Mariner und Christabel
spukten vielleicht noch durchs Lime Street Cottage.
    Ich blätterte in meinen
Fahrplänen; es gab überraschenderweise die Möglichkeit, an einem Tag hin- und
zurückzugelangen, man mußte nur in Minehead umsteigen. Gut, sagte ich, erhob
meine Dose und prostete einem Grabstein zu, dann beginnen wir eben mit Nether
Stowey.
    Eine halbe Stunde genoß ich
noch das Postkartenszenario, das sich vor mir ausbreitete.
    Dann war es sechs geworden, ich
packte meine Unterlagen ein und machte mich auf den Weg ins Royal Castle Inn.
Nach der anstrengenden Planungsarbeit hatte ich mir ein paar Bissen verdient.
    Gediegene Holzbänke, stabile
Tische, hier konnte man sich niederlassen. Meerblick natürlich, Klippenblick.
Quer durchs abschüssige Felsmassiv zog sich als braune Linie der Coast Path,
den Coleridge an einem Abend im Oktober 1797 hinunter nach Lynmouth gewandert
war, mit der Niederschrift von Kubla Khan im Gepäck.
    Wollte eigentlich Lammkoteletts
bestellen. Aber eine Kreideinschrift auf der Schiefertafel über der Theke
rührte mein Herz. »Fuck the European Union«, stand da, »Eat British Beef!«
Dieses kühne Manifest führte mich auf Abwege; als der Kellner kam,
entschlüpften meinem Mund jene vier Worte, die man als Ausländer in England nur
aus zwei Beweggründen aussprechen sollte: manifester Masochismus oder
hemmungslose Anglophilie. Sind sie einmal heraußen, kann man sie auch mit
froschartigem Nachschnappen nicht mehr aus der Luft zurückholen, denn da ist
immer ein Kellner, der die Worte schon aufgefangen hat, verschwörerisch grinst
und sie sogleich wiederholt, jene Worte, die in der kulinarischen Kabbala auf
die Stirn des Golems geschrieben werden müssen, damit er für immer in Staub und
Asche zerfällt: Steak-and-kidney-pie.
    Eingegossen in ein labbriges
Dreieck aus geschmacklosem Teig, herausgeschnitten aus einer Torten- oder
Kuchenform, deren nur die Köche selbst jemals in ihrer ehrfurchtgebietenden
Gesamtheit ansichtig werden, paaren sich in braunem, zähflüssigem Gift große
Stücke ungereinigter Rinderniere mit Fleischbrocken, die auf dem Festland
höchstens als Köder für Rattenfallen Verwendung finden könnten. Während ich so
vor meinem Teller saß und über die Maßen büßte — selbst die Chips waren
ungenießbar — , landete eine Seemöwe auf der Begrenzungsmauer des Gastgartens
und starrte mich an, oder besser, starrte auf das braungelbe Speisengemisch auf
meinem Teller.
    Nach einem tiefen, tröstlichen
Zug von meinem Stout fiel es mir nicht schwer, mich wie der Alte Seemann auf
seinem Schiff zu fühlen, obwohl eine Möwe eine Möwe ist und kein Albatros. Aber
eine nahe Verwandtschaft ist nicht zu leugnen, und der Vogel tat meiner
Einbildungskraft auch noch den Gefallen, sich wie der Albatros aus Baudelaires
Gedicht zu verhalten. Er landete nach kühnen Flugmanövern auf der Steinmauer,
watschelte dort behäbig, hilflos und mitleiderregend herum und erhob sich
wieder in die Lüfte, die er mit Steig- und Fallflügen durchschnitt, als wollte
er den Winden zeigen, wer hier wen beherrscht.
    Fällte den Beschluß, der Möwe
weder eine Pfeife in den Schnabel zu stecken noch sie mit einer Armbrust zu
erschießen, sondern sie mit Chips zu füttern, sehr zum Unmut des Kellners. Ich
ließ mich jedoch nicht beirren und warf der

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