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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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und Lynton, wobei ein nicht unbeträchtlicher
Höhenunterschied zu bewältigen war. Mehr als einmal durchraste er die gesamte
Rundroute, mehr als 90 Meilen, via Dulverton zurück nach Stowey, in zwei
aufeinanderfolgenden Tagen.
    Einer, der dies mit
Enthusiasmus tat und wohl auch getan hätte, wenn das Ziel der Mond gewesen
wäre, war der damals siebzehnjährige William Hazlitt. Er hatte Coleridge
predigen gehört, von der Kanzel der unitaristischen Kirche in Shrewsbury, und
den Eindruck gewonnen, »die Musik der Sphären« zu vernehmen. Es war am 14.
Jänner 1798, und Coleridge hatte seinen glühenden Verehrer gleich nach Stowey
eingeladen. Hazlitt war beglückt von der Vorstellung, mit seinem Idol tagelang
wandern und dabei dessen geistigen Emanationen lauschen zu dürfen; für ihn war
es klar: In der Person von Samuel Taylor Coleridge hatten sich Poesie und
Philosophie »endlich getroffen«. Doch erst nach einer Wiederholung der
Einladung zwei Monate später überwand Hazlitt seine Scheu; am Abend des 25.
April traf er im Lime Street Cottage ein. Coleridge war hocherfreut, wieder
einen frischen Gefährten zu haben, der ihn ohne Murren nach Lynton begleitete,
und schon am nächsten Morgen brachen sie auf. Dorothy und William schlossen
sich an, der Küstenweg flog unter ihnen dahin, Gespräche über Metaphysik
beschleunigten die Schritte, und zehn Stunden später war man am Ziel, einem Pub
am Eingang zum Valley of Rocks. Da brach plötzlich, wie Hazlitt berichtet, ein
furchtbares Gewitter los, und während die anderen die Wärme des Gasthauses zu
schätzen wußten, rannte Coleridge »barhäuptig hinaus, um den Aufruhr der
Elemente im Valley of Rocks zu genießen«.
    Daran mußte ich denken, als ich
bei wunderbarem Wetter die Serpentinen zum Gipfel des Castle Rock hinaufging.
Und an die so grundlegende Verwandlung von Hazlitts Gefühlen in späteren
Jahren, wo er für seinen einstigen Heros nur mehr Spott übrig hatte, vermischt
mit der Bitterkeit über eine verlorene Freundschaft. Seine Beschreibung der
ersten Begegnungen aber blieb durchtränkt von einer gewissen Zärtlichkeit, die
erst am Ende jedes einzelnen Absatzes wieder der üblichen Trockenheit weicht.
So schrieb er über die Physiognomie seines einstigen Gefährten:
    »Seine Stirn war breit und
hoch, hell, als wäre sie aus Elfenbein gemacht, mit langen vorgewölbten
Augenbrauen, und seine Augen rollten unter ihnen wie ein Ozean mit verdunkeltem
Glanz... Sein Mund war grob, sinnlich, offen, eloquent; sein Kinn wohlgestaltet
und rund; aber seine Nase, das Steuerruder seines Gesichtes, der Index des
Willens, war klein, schwächlich, nichts — wie das, was er vollbracht hatte.«
Abgesehen von der aparten Schlußwendung, mit der Steuermann Hazlitt hier das
Boot noch herumreißt, belustigte mich an dieser Passage die eherne Apodiktik,
mit der die Nase eines Menschen zum Abbild seines Willens erklärt wird. Ich sah
die Bilder vor mir: Hazlitts Nase, lang, spitz, nach oben zeigend. Nach seiner
Theorie hätte er Priester werden müssen. Und die Nase von William Wordsworth,
dieser enorme Geierschnabel, der auf den Porträts ein Drittel des Profils
einnimmt, als wäre sein Schädel nur der Anbau an diese Bastion seines Willens.
Und Annas Nase, diese... nein, vergessen wir’s. Ich war oben angelangt und
konnte endlich das gesamte Gelände überblicken.
    Steile Felsabbrüche,
Steilwände, die fast senkrecht ins Meer gerammt waren; am Fuß des Abgrunds ein
schwarzer Strand voller Geröll, der mir vorkam wie die Reste eines
Vulkanausbruchs, dahinter torbogenartige Eingänge zu den Höhlen, die sich in
den Fels gruben, measureless to man. Gischtspritzer, hingepinselte
Girlanden aus Deckweiß auf blauem Papier. Richtung Westen ein ähnlich hoher
Brocken wie der, auf dem ich stand, mit sandsteinroten Wunden, herausgebissen
von einem Riesenraubtier aus dem grünen Fleisch des Berges. Dazwischen ein Riß
in die Tiefe, in den ich kaum hinabzuschauen wagte, während die Möwen mit
Gezeter in ihn hinabtauchten und wieder emporschossen und mir der Wind derart
um die Ohren blies, daß ich verstehen konnte, warum Coleridge seinen Hut im Pub
gelassen hatte.
    Es wunderte mich nicht, daß
dieser Ort die Phantasie der Einheimischen derart heftig anregte. Am Nachmittag
hatte mir ein alter Lyntoner in der Hotelbar erzählt, daß das bizarr geformte
Loch in der Felsformation »the White Ladie« genannt werde, weil seine Umrisse
die Gestalt einer Frau mit Hut annahmen, wenn man es von

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