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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Instrument der Unterwerfung. Die Frauen hielten sich zurück,
Mary, obschon von allen Shelley genannt, hieß eigentlich noch Godwin; Shelleys
verlassene Frau Harriet sollte sich erst später in einem Londoner Kanal
ertränken. Und Claire Clairmont, die Fünfte im Bunde, Marys Halbschwester, trug
schon seiner Lordschaft Kind im Bauch. Freie Liebe, was sonst soll uns retten
aus dieser bigotten Welt?
    Man einigte sich auf ein Spiel:
jeder sollte sein bestgehütetes Schreckensgebilde aus seinen Untiefen
herauftauchen — in dieser Nacht.
    Dr. John William Polidori ging
in dieser Nacht in sein Zimmer und schrieb den Anfang einer Schauergeschichte
mit dem Titel The Vampyre. Ihr Held, Lord Ruthven, skrupellos und
frauensüchtig, erinnert — wenig überraschend — frappant an Lord Byron.
    Percey Bysshe Shelley und
George Gordon Noel Lord Byron gingen in dieser Nacht in ihre Zimmer, bastelten
kurz an halbherzigen Entwürfen, schliefen schnell ein; ihre Untiefen waren
schon zu stark vom Opiumdunst umnebelt. Da sah man nicht mehr viel, da war
nichts mehr heraufzutauchen. Erst am nächsten Morgen erinnerte sich Shelley an
den Auslöser seiner Flucht: die Vision einer Frau »mit Augen anstelle der
Brustwarzen«.
    Claire Clairemont ging in ihr
Zimmer und störte das Einschlummern der Dichter ein wenig: sie schrie die Wände
an vor Zorn.
    Mary Shelley, damals neunzehn,
ging in ihr Zimmer und hatte in dieser Nacht einen »wachen Alptraum«: »Ich sah
den bleichen Studenten neben dem Ding knien, das er zusammengebaut hatte. Ein
ausgestreckter Leichnam, der, als sich eine Maschine in Gang setzte,
Lebenszeichen gab. Sein Erfolg erschreckte den Schöpfer, er hoffte, daß sich
dieses Ding wieder in tote Materie auflösen würde. Er öffnete die Augen, war es
ein Traum? Doch das schreckliche Ding stand hinter seinem Bett, öffnete langsam
die Vorhänge...«
    Am nächsten Morgen schrieb sie
den berühmten ersten Satz des vierten Kapitels: »It was on a dreary night in
November...«
    So wurde Christabels
Verführerin Geraldine — achtzehn Jahre nach ihrem ersten Erscheinen im
Eichenwald von Sir Leoline — zur Patin von Frankenstein, Or The Modern
Prometheus. Shelleys Drachen wurde übrigens von einer Sturmböe berblasen;
die Himmelfahrtskatze fiel in einen Weiher und ertrank.

Fünfzehn Am Abend meines zweiten Tages in Lynton, nach mehreren Stunden Lektüre in der
Bar des Hotels, nahm ich mir vor, zum Valley of Rocks zu wandern. Schon nach
ein paar hundert Metern, vorbei an den Edelhotels mit Meerblick, befand ich
mich in einer anderen Szenerie. Hoch über der Küste verlief der Pfad, kein
Mensch war mehr zu sehen; hinter mir gebärdete sich die Abendsonne wie eine
wildgewordene Modeschöpferin: eine leuchtende Robe nach der anderen stülpte sie
über die Schultern der Klippe, sie wollte alles vorführen, was sie entworfen
hatte. Und ihr Modell war zweifellos begabt; es hieß Sillery Sands und
hatte vor mir schon Constable und Turner entzückt.
    Es erstaunte mich immer wieder,
wie der gleiche Küstenausschnitt, der bei Mittagslicht von einem einförmigen Grüngrau
überzogen war, gegen Abend die Vielfalt seiner Farben preisgab. Vielleicht gab
es ja hier einen alten Mittagsgott, der, immer wenn die Sonne im Zenit stand,
eine Plane über die Küstenwälder warf, um das Treiben seiner bocksfüßigen
Begleiter und ihrer Dryaden und Nymphen vor den Blicken neugieriger Menschen zu
verbergen.
    Die Grünschattierungen zogen
sich in parallelen Bögen über den Fels, als hätte sich ein monochromer
Regenbogen dort draußen zur Ruhe gesetzt. Wo der Fels nicht bewachsen war,
konkurrierte das rote Schimmern des Sandsteins mit dem satten Indigo des
Bristol Channel. Am äußersten Ende der Klippen ein weißer Fingerhut, den eine
Riesin fallen gelassen haben mußte: der alte Leuchtturm von Foreland Point.
    Nach etwa einer Meile umrundete
der Pfad einen Felsvorsprung, der dem Blick vorher verborgen hatte, was er ihm
nun eröffnete: die wüst in den Himmel ragenden Gesteinsblöcke des Valley of
Rocks, Spielplatz der Titanen.
    Im Mai und Juni 1797 wurde es
zu einer Obsession von Coleridge, alle Freunde und Bewunderer, die ihn
besuchten, an diesen Ort zu schleppen. Manche folgten mit Begeisterung, andere
widerwillig. Es war ja auch nicht jener gemütliche Spaziergang von einem Hotel
in Lynton aus, zu dem Coleridge einlud, sondern ein Gewaltmarsch, beginnend in
Nether Stowey, gut und gern vierzig Meilen. One Way. Über Kilve und Watchet
ging es nach Porlock

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