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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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voraus, findet die
Stelle wieder und ruft seinen Vater.
    Als Kain aus der Dunkelheit
auftaucht, packt Enos die Angst. Denn die mächtigen Glieder Kains sehen aus wie
vom Feuer verwüstet, die Haare kräuseln sich in fahlem Schwarz, wie die Locken
auf der Stirn eines Bisons.
    Die Landschaft verwandelt sich;
eine riesige Wüste voller nackter Gesteinstrümmer liegt vor ihnen, keine Spur
von Pflanzenwuchs. In dieser Gegend kann es keine Jahreszeiten geben, nicht
einmal der winterliche Schnee würde auf diese glühenden Felsen und die
versengte Erde fallen. Nur die Riesenschlange und der Aasgeier liefern sich
hier ihre Todeskämpfe, und manchmal kann man den Schrei des Geiers vernehmen,
mit gebrochenen Flügeln gefangen in den Windungen der Schlange.
    »Hier habe ich die Karaffe und
den Kuchen gefunden«, sagt Enos und weist auf eine Stelle unterhalb eines
riesigen Felsens. Dort erspäht Kain einen Schatten und hört eine Stimme, ein
lautes Klagen. »Weh mir, niemals mehr darf ich sterben, und doch plagen mich
Hunger und Durst.« Als sich der Schatten umdreht, sinkt Kain vor Schreck in die
Knie: es ist sein toter Bruder Abel, der da vor ihm steht.
    »Ich weiß, wo die kalten
Quellen sind, aber ich darf nicht trinken. Weshalb stahlst du meine Karaffe?«
Aber Kain antwortet: »Hast du nicht Gefallen gefunden in den Augen des Herrn,
deines Gottes?«
    Die Stimme Abels wird lauter,
die Felsen erzittern. »Der Herr ist nur der Gott der Lebenden, die Toten haben
einen anderen Gott.«
    »Abel, mein Bruder«, erwidert
Kain, »ich würde für dich beten, aber dieser Geist in mir ist erloschen,
verbrannt im Feuer der Agonien. Aber ich bitte dich, sag mir, was du weißt. Wer
ist dieser Gott der Toten? Wo wohnt er? Welche Opfer werden ihm gebracht?«
    »Folge mir, Sohn von Adam! Und
nimm dein Kind mit!« Leise wie Schatten bewegen sich die drei über den weißen
Sand und verschwinden zwischen den Felsen.
     
    Damit bricht der Text ab. Im
Nachlaß fand sich jedoch ein erstaunliches Papier, ein vollgekritzelter Zettel
mit Handlungsentwürfen für den dritten Teil.
    »Mitternacht am Euphrat.
Zedern, Palmen, Pinien.« Kain sitzt auf einem Felsen. Die wilden Tiere sind
unterwegs — er hört die Schreie einer Frau und ihrer Kinder, die von Tigern
umzingelt sind. Er führt einen einsamen Dialog mit sich selbst, darüber, ob er
die Frau retten soll. »Er nähert sich, wünscht sich den Tod, aber die Tiger
fliehen.« Die Frau entpuppt sich als seine Gattin, die Kinder sind seine Söhne.
Sie fleht ihn an, seine Geschichte preiszugeben, und Kain gibt nach.
    Er bittet die Elemente, ihn für
eine kurze Zeit ausnahmsweise nicht zu quälen, und beginnt zu erzählen, wie er
den Geist von Abel traf, der gezeichnet war von Qualen, ihm zugefügt »von einem
anderen Wesen, das nach seinem Tod Macht über ihn hatte, ein Wesen, größer als Jehova«.
Abel ist unterwegs, um diesem Wesen Opfer zu bringen, und überredet Kain, ihm
zu folgen. Sie kommen zu einem riesigen, mit Wasser gefüllten Abgrund, steigen
hinunter, »verfolgt von Alligatoren etc«. Sie gehen weiter, bis sie zu einem
gewaltigen Krater inmitten einer Wiese kommen. Dieser Krater ist so tief, daß
man seinen Grund nicht sehen kann. Abel opfert Blut von seinem Arm. Die Wiese
erstrahlt in hellem Glanz, auch Abels Arm beginnt zu leuchten.
    Abel überredet Kain, ein Opfer
zu bringen, für sich und seinen Sohn. Er soll den Arm seines Sohnes
aufschneiden und das Blut in den Krater tropfen lassen. Gerade als Kain sich
anschickt, das Messer zu heben, »erscheint in den Himmeln der wahre Abel in
seinem engelhaften Glanz«, begleitet vom Erzengel Michael, und befiehlt Kain,
das Messer fallen zu lassen.
    »Der böse Geist wirft seine
Verkleidung als Abel ab, erscheint in seiner wahren Gestalt und erhebt sich in
die Lüfte, um mit Michael eine fliegende Schlacht zu beginnen.«
    Diese Bilder erstaunten mich,
ich fragte mich, was für einen Gott er gemeint haben könnte, der größer sei als
Jehova. Der Teufel kann es nicht gewesen sein, das wäre selbst für den Christen
in Coleridge zu billig gedacht. Und das Blutopfer? Das ein paar Monate später
schon wieder auftauchen sollte, wenn sich der Alte Seemann in den Arm beißt und
sein Blut trinkt, um sprechen zu können angesichts der Dämonin Life-in-Death?
Als hätte er selbst etwas geopfert, etwas von seinem eigenen Blut, und eine Art
Zwang ließe ihn diese Szene ständig wiederholen. Aber was? Sein Bruder kann es
nicht gewesen sein, da war Mrs.

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