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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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Frau griff unter
ihren fleckigen Kittel — oder war es eine Robe aus weißem Satin? — und förderte
ein Gerät zutage, das aussah wie eine Axt: zwei silberne Mondsicheln, abnehmend
und zunehmend, die scharfen Rücken voneinander abgewandt, befestigt an einem
silbernen Stiel. Dessen unteres Ende verbreiterte sich zu einer hohlen
Halbkugel. Als die Frau diese Halbkugel wie einen Schöpflöffel in den Kessel
tauchte, flogen mit einem Rauschen Hunderte Krähen aus den Ästen des
Granatapfelbaums hoch.
    »Bist du bereit«, fragte die
Frau und hielt mir den Löffel hin. Die Flüssigkeit, die sie aus dem Kessel
geholt hatte, brodelte dunkelrot im Silberlöffel.
    »Bereit wofür«, sagte ich,
nichts geht über gut gesetzte Gegenfragen, um Entscheidungen hinauszuschieben —
und diese Brühe war ohne Abkühlung nicht zu genießen. Smaragdgrüne Eiswürfel
wären passend, dachte ich.
    »Ich dachte, du hast ihn
vorbereitet«, sagte die Frau zu Anna. »Er ist vorbereitet.« Anna legte
mir die Hand auf die Schulter
    und massierte mit dem Daumen
meine chronisch verspannte Stelle neben den Halswirbeln.
    »Ein Jahr«, sagte
Life-in-Death, »ein Jahr im Palast. Was vorher war, ist bedeutungslos. Was
nachher sein wird, überbrückt nur die Spanne bis zu deinem Tod.«
    Gute Definition meines Lebens,
dachte ich, mit oder ohne Palast.
    Anna massierte stärker.
    »Warum nicht«, sagte ich, nahm
der Frau den Löffel aus der Hand und blies hinein. Man muß sich ja nicht
absichtlich den Mund verbrennen.
    Vorsichtig tauchte ich die
Zungenspitze in das Gebräu.
    In diesem Moment ging eine
Erschütterung durch den Palast. Die Wände und Türme begannen zu vibrieren, ich
hörte ein leises Geräusch, das anschwoll und sich in ein Tosen verwandelte, ein
Heulen, Bellen, Kläffen, wie geradewegs aus der Hölle.
    Dann sah ich die Hunde. Zu
Dutzenden sprangen sie aus den Fenstern und von den Erkern, in Massen drangen
sie aus dem Tor. Es waren weiße Jagdhunde mit purpurfarbenen Ohren, eine Lawine
aus Tausenden roten Punkten, die über uns hinwegbrauste. Beim Sprung über
unsere Köpfe verdunkelte die Meute die Sonne — so dachte ich zuerst, dann sah
ich, daß blitzartig die Nacht hereingebrochen war. Über der Silhouette des
Palastes schimmerte ein Haufen Sterne, falsch, ein Sternbild, ich hatte von
Anna ja einiges gelernt und konnte sogar seinen Namen nennen: Canus Maior. In
seiner Mitte gleißte eine kleine Sonne: Sirius, der Hundsstern, der hellste
Fixstern am Winterhimmel.
    Darüber brannte in silbernem
Feuer die Sichel des Mondes, als wäre eine Hälfte der Axt direkt in den Himmel
gefahren. Wie der Ancient Mariner sah ich über mir den »star-dogged moon«, und
während die Erde unter mir langsam nachgab, beschlich mich das Gefühl, selbst
dieser Stern geworden zu sein und keinen Willen mehr zu besitzen als den einen:
der silbernen Herrin Anna zu folgen, bedingungslos wie ein Hund.
     
    Erst beim Frühstück fiel mir
ein, daß die Bus Company von Devon eigentlich First Red Bus hieß. Nichts
geht über die beruhigende Wirkung von Fakten.

Siebzehn Die Bilder der Nacht
flimmerten noch auf der Innenseite meiner Lider, als ich dem Busfahrer die
Münzen in das schwarze Plastikoval neben dem Ticketautomaten warf; nicht ohne
ihn »Sir« zu nennen, woraufhin er selbstverständlich im Gegenzug auch mich
»Sir« nannte — ein ritualisiertes Einverständnis, ein einfacher Austausch von
höflichem Respekt. Kein Traum, etwas Wirkliches. Etwas, das ich kontrollieren
konnte. Hätte ich ihn nicht »Sir« genannt, hätte er mich auch nicht »Sir«
genannt. So einfach war das Leben. Der Busfahrer hatte auch keine eingefallenen
Wangen, ganz im Gegenteil, sein breites, fleischiges Gesicht glänzte in gesunder
britischer Röte. Ich fand auch keine Raben im Gepäcknetz oder weiße Jagdhunde
im Stehplatzbereich; nur zwei weißhaarige Mütterchen unterhielten sich über das
angekündigte, aber lang schon ausbleibende Azorenhoch.
    Ich atmete durch und ließ mich
auf einen besonders breiten Sitzplatz fallen. Die alten Ladies musterten mich
und zischelten; war schon wieder etwas ungewöhnlich an mir? Mein Blick fiel auf
das Schild neben meinem Platz: Disabled Only. Seufzend hievte ich mich wieder
hoch und verzog mich auf die hinterste Sitzreihe.
    Als der Bus endlich losfuhr und
ich mich gedankenverloren daranmachte, die Nackenpartien der Ladies zu
studieren, die Muttermale und schuppigen Stellen unter den dünnen weißen
Löckchen, die glitzernde Spur eines

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