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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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ich
spürte, wie sich der Stoff meiner Hose vollsog bis hinauf zum Gürtel. Mit
fuchtelnden Armen suchte ich Halt, doch da war keiner, ich keuchte, ich wollte
nicht untergehen, noch nicht, wo war nur Anna, konnte sie mich nicht retten?
    »Voilà«, sagte hinter mir eine
Stimme, »the Sacred River«. Ich hörte den Tonfall einer altgedienten
Reiseleiterin, die schon zu viele lästige Kunden hatte erdulden müssen.
Gelangweilte Seelenruhe. Herablassende Selbstbeherrschung.
    Mit Paddelbewegungen schaffte
ich eine Drehung um 180 Grad.
    Nur Annas Oberkörper ragte noch
aus den Fluten, beleuchtet von den zahllosen Fackeln, die in parallelen,
vertikalen Reihen an den Wänden verankert waren. Die vierte Wand fehlte
allerdings; gegenüber der Aufzugtür führte der Raum ins Nichts. Auch nach oben
hin war keine Begrenzung zu erkennen, die Lichtspuren der Fackeln verloren sich
in einem schwarzen Himmel. Keine Morgensonne weit und breit.
    Da sah ich die Eisschollen aus
der vierten Wand kommen. Masthoch, grün wie Smaragd, trieben sie auf uns zu.
»Tauchen!« befahl Anna, ich gehorchte, holte Luft, hielt mir die Nase zu und
ließ mich mit dem Kopf voran ins Wasser fallen. Die Bewegung hatte die Grazie
eines See-Elefanten bei der Fütterung. Anna tauchte mir nach, zog mir die Hand
von der Nase, und ich konnte tatsächlich atmen. Ohne jede Anstrengung drangen
wir in die Tiefe vor, zwischen unseren Zehen mußten Schwimmhäute gewachsen
sein. Ich fühlte mich leicht, geborgen in dieser lautlosen Bewegung, während
über unseren Köpfen die Eisschollen gegen die Wände donnerten.
    Flüssiges grünes Licht zog in
Schlieren zu uns herunter, umhüllte uns, ließ uns leuchten wie Skulpturen aus
Smaragd.
    Mein Fuß stieß auf etwas
Hartes, ich war irritiert, doch schnell wurde mir klar: Die Wände des Schachtes
waren noch immer da, auch wenn wir mittlerweile Hunderte Yards unter der
Oberfläche sein mußten.
    Etwas kam auf uns zu, ein
gelber Lichtpunkt, der langsam größer wurde, ein gelbes Rechteck, ein Fenster,
in dessen Glas sich die Sonnenstrahlen fingen. Ein beunruhigender Anblick in
schwärzester Tiefe. Es war eine gläserne Tür in der Wand, Anna hatte natürlich
den Schlüssel, wir schwammen hindurch; da packte uns ein Strudel, riß uns nach
oben und schleuderte uns aus dem Wasser.
    Da lagen wir nun, gestrandet
auf einer Insel, umspült von türkiser Brandung. Ich starrte auf die
Schaumspritzer, die als weiße Elfen auf den Wellenbergen tanzten, versuchte,
meine Eindrücke in ein imaginäres Regal zu schlichten, auf dem groß »Vernunft«
stand, aber Anna tippte mir schon auf die Schulter, ich drehte mich um — und
krachend fiel das Regal in meinem Kopf in sich zusammen.
    Hinter einem Wall aus
flirrender Luft, wie über dem Asphaltboden einer Startbahn im Hochsommer,
schimmerten die Wände eines Palastes in überirdischem Grün: flammende Jade und
Lapislazuli. Aus dem offenen Tor führte ein Weg, von wilden Steineichen
gesäumt, auf eine Wiese. Im Schatten eines gewaltigen Granatapfelbaums, dessen
Früchte wie aufgehende Vollmonde zwischen den Zweigen hindurchschienen, lag
eine Frau.
    Dorthin zog es mich,
mittlerweile bar jeder Vernunft — und schon stieß ich mir die Nase blutig. Der
Wall war undurchdringlich — jedenfalls für mich. Anna lachte, wischte mir mit
einem Taschentuch das Blut ab, zog einen ihrer tausend Schlüssel aus der Tasche
und klopfte damit an die unsichtbare Wand.
    Was soll ich sagen? Wir waren
drin. Im Garten von Xanadu, zweifellos. Und der Khan war eine Frau.
    »Der Aspirant«, sagte Anna,
»ist angekommen.« Die Frau, die uns ihren Rücken zugekehrt hatte, stand auf und
drehte sich um. Ihr Gesicht war weiß. Nicht blaß oder schlecht durchblutet:
vollkommen weiß. Über ihren Wangenknochen spannte sich die Haut, das einzige
Fleisch waren die roten Lippenwülste unter der durchsichtigen Nase, hinter der
ein schwarzes Loch klaffte. Ihr schwarzes Haar umrahmte ihr Gesicht, als wäre
sie eine Todesanzeige ihrer selbst. Und doch: sie war nicht häßlich. Oder
besser: schön und häßlich gleichzeitig, vergreist und mädchenhaft, verlockend
und vernichtend. »Life-in-Death!« entfuhr es mir, die Frau lachte, daß ich den
bodenlosen Abgrund zwischen ihren Zahnreihen sehen konnte; »nicht ganz«,
flüsterte mir Anna ins Ohr, »eher das Vorbild.«
    Erst jetzt nahm ich den
dampfenden Kupferkessel wahr, der an einem Ast des Granatapfelbaums aufgehängt
war und über glühenden Holzscheiten in der Luft schwebte. Die

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