Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
schreckliche Gedanke und die davon ausgelöste Angst raubten ihm den Atem. War er noch nicht wirklich tot, und die Trauergemeinde hatte sich versammelt, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, ohne zu ahnen, dass er lebte?
Doch dieses Erschrecken währte nicht lange. Er war am Ende und wurde begraben. Widerstrebend ergab er sich seinem Schicksal und faltete die Hände auf der Brust. Die Intensität des Lichtes wurde so übermächtig, dass er gezwungen war, sich völlig abzuwenden. Der nun einsetzende Sog war erschreckend und erheiternd. Er wurde in das verzehrende Feuer geschleudert und geblendet von …
3
ES WAR EINMAL
»Eines Tages werdet ihr alt genug sein,
dass ihr wieder anfangt, Märchen zu lesen.«
C. S. Lewis
S onnenlicht?
Es war Sonnenlicht! Wie konnte das sein? Jegliche Klarheit des Denkens, auf die Tony immer solchen Wert gelegt hatte, verschwand angesichts dieser völligen Überforderung seiner Sinne. Er schloss die Augen, ließ sich das Gesicht von der fernen Strahlung wärmen und seinen durchgefrorenen Körper in die goldene Decke der Sonne hüllen. Für einen Moment vergaß er alle Sorgen. Dann, wie ein bevorstehender Tagesanbruch, riss ihn die Unmöglichkeit seiner Situation aus seiner Träumerei.
Wo war er? Und wie war er hierhergelangt?
Tony öffnete vorsichtig wieder die Augen und blickte nach unten. Er blinzelte, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an die Umgebung zu gewöhnen. Er trug eine vertraute alte Jeans und seine Wanderschuhe, mit denen er in Depoe Bay bei Ebbe über den steinigen Strand ging. In dieser Kleidung hatte Tony sich immer viel wohler gefühlt als in den Anzügen, die er in seiner täglichen Tretmühle trug. Diese Schuhe müssten doch in meinem Strandhaus im Schrank stehen , war sein erster Gedanke. Sie trugen die vertrauten Kratzer, die ihnen das uralte Lavagestein am Strand Oregons zugefügt hatte.
Als er sich umschaute, wurde sein Erstaunen noch größer. Er entdeckte keinerlei Anhaltspunkte, wo er war und welcher Tag oder welche Uhrzeit es war. Hinter ihm befand sich ein kleines schwarzes Loch. Vermutlich war das die Stelle, wo er auf ziemlich grobe Art regelrecht ausgespien worden war. Der Schacht dahinter schien kaum groß genug, dass ein Mensch hindurchpasste, und weiter als vielleicht zwanzig oder dreißig Zentimeter konnte Tonys Blick die Schwärze nicht durchdringen. Er drehte sich wieder um, schirmte seine Augen mit den Händen gegen das Sonnenlicht ab und betrachtete die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete. Dabei formte sich in seinem Kopf ein immer länger werdender Fragenkatalog.
Wie auch immer er an diesen Ort gelangt war, von welcher Kraft auch immer durch den dunklen Tunnel befördert, er stand jetzt mitten auf einer schmalen Bergwiese voller Blumen: orangefarbene Agoseris, lila Anemonen und das zarte Weiß von Purpurglöckchen, dazwischen eingestreut Gänseblümchen – wie gelbe Arnika. Es war eine Einladung, tief Luft zu holen, und als er es tat, konnte er die Düfte beinahe schmecken: intensiv und köstlich, im Wind ein Hauch von Salz, als läge das Meer nur eben außer Sichtweite. Die Luft selbst war frisch und klar – kein Anflug von etwas, das nicht von Natur aus hierhergehörte. Unter ihm breitete sich ein riesiges Tal aus, umgeben von einer Bergkette, die den kanadischen Rockies ähnelte – ein Postkarten-Panorama. Inmitten dieses Tals, im nachmittäglichen Licht, lag ein See, reich an leuchtenden Spiegelungen. Seine unregelmäßigen Uferlinien warfen Schatten in von Tonys Standort aus uneinsehbare Täler, deren Gebirgsbäche den See speisten. Zehn Meter vor ihm verschwand die Wiese jäh in einer Schlucht, deren Boden mindestens dreihundert Meter tiefer lag.
Dieses Paradies aus duftenden Bergblumen, in dem er stand, war nicht länger als dreißig Meter und schlief zwischen dem Abgrund vor ihm und dem steilen Berghang hinter ihm. Zu seiner Linken endete der Blütenteppich vor schroffen Felswänden, aber in der entgegengesetzten Richtung gab es einen einzelnen Pfad, der, nur schwach erkennbar, in dichten Bergwald hineinführte. Eine sanfte Brise streifte sein Gesicht und strich ihm durchs Haar, und eine Woge aus feinen Düften schwebte in der Luft, als sei eine Frau vorbeigegangen.
Tony stand völlig reglos, als könnte das helfen, den Sturm in seinem Kopf zu beruhigen. Seine Gedanken formten eine Kaskade der Verwirrung. Träumte er oder war er verrückt geworden? War er tot? Offensichtlich nicht, es sei denn … es sei denn,
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