Der Weg zur Hölle
nicht aufhören kann und zum Serientäter wird. Aber vielleicht war ihm das zu dem Zeitpunkt selbst nicht klar.«
Reemund sah auf.
»Sehen Sie«, fuhr Wassermann fort. »Es könnte doch sein, dass jemand richtig wütend war auf den Koss. So einer wie der hat mit Sicherheit viele Feinde. Nicht nur durch die Fernsehsendung. Da war bestimmt noch mehr. Es sind immer die Strahlendsten, die die dunkelsten Ecken im Keller haben.«
Reemund sah seinen Gesprächspartner lange an. Der blickte vor sich hin, als würde er genau wissen, wovon er da sprach. Dann schüttelte der Kommissar den Kopf.
»Wenn es so wäre, hätte mehr Zeit zwischen den ersten beiden Morden gelegen. So eine Entwicklung dauert. Das würde nur gehen …« Er stockte. »Das würde nur funktionieren …«
Ihm klappte der Mund auf und wieder zu.
Wassermann sah ihn an, lächelte und nickte.
»Ganz recht. Sie haben es hier nicht mit einem Mörder zu tun …«
Reemund drückte seine Coladose zusammen, ohne zu bemerken, was er da tat. Das klebrige Getränk floss ihm über die Hand.
»… sondern mit zweien! Der eine hat Koss getötet. Und ein Trittbrettfahrer hat Medchenwunder aus dem Weg geräumt. Schlechter vorbereitet. Und der dritte Mord …«
Reemund hatte die Stimme gesenkt, als ob zu laute Worte den Gedankenfluss unterbrechen würden.
»Meyer? Das war wieder der erste Täter. Er wollte Koss umbringen und uns Meyer ans Messer liefern, weil der Frau und Tochter misshandelt hat. Wir haben ihm das aber nicht abgekauft. Also hat der Täter die Sache selbst in die Hand genommen. Spontan.«
»Das wäre eine Erklärung«, stimmte Wassermann nickend zu.
Eine Weile saßen sie schweigend da. Der Kommissar ignorierte standhaft die Cola auf seiner Hand, die allmählich eintrocknete.
»Wenn wir davon ausgehen, dass jemand Koss so sehr gehasst hat«, sagte Reemund nach einer Weile, »wissen wir aber immernoch nicht, wer und warum. Alle, die ihn kannten, beschreiben ihn als einen Heiligen.«
»Wissen Sie, an wen mich der Koss erinnert hat? An Rousseau. Der sah ihm sogar ähnlich. Rousseau? Sagt Ihnen was?«
»Vage.«
»Ein Aufklärer. Achtzehntes Jahrhundert. Hat fantastische Werke über Erziehung geschrieben, die bis heute Relevanz haben. Aber seine eigenen Kinder hat er zum Verhungern ins Heim gegeben, damit er sich seinen großen Ideen widmen konnte, anstatt für die Familie zu sorgen. Der Fluch von Schönheit und Stärke. Wie bei Koss. Keiner traut solchen Menschen Boshaftigkeit zu.«
Der Kommissar sah sein Gegenüber aufmerksam an.
»Wie kommen Sie jetzt auf Kinder?«
Wassermann schien ihn nicht gehört zu haben.
»Es gibt Gesichter, die schaut man an, und man ist berauscht von ihrer Schönheit. Und gleichzeitig ist man überzeugt davon, ein Monster vor sich zu sehen.«
»Warum Kinder, Wassermann?«
Der Angesprochene sah Reemund an.
»Nichts. Ich hab nur gehört, dass seine Tochter sich umgebracht haben soll. Das muss man sich vorstellen: Da verbringt er sein Leben damit, Familien zu helfen, und derweil bringt sich seine eigene Tochter um.«
»Seine Stieftochter. Aber das war doch ein Unfall.«
»Sind Sie sicher? Dann habe ich wohl etwas Falsches gehört. Soll ja vorkommen.«
Langsam, ohne den Blick von seinem Gegenüber abzuwenden, zog Reemund sein Mobiltelefon aus der Tasche.
»Wedelbeck? Wissen wir eigentlich, woran Koss' älteste Tochter gestorben ist? Sehr gut! Sie denken mit. Wie bitte? Warum hängt sich jemand in Zürich auf?«
Reemund war aufgestanden.
»In einer halben Stunde will ich alle im Versammlungsraum haben. Und bestellen Sie die jüngere Tochter, diese Evelyn zu einem Gespräch ein.«
Er klappte sein Telefon zu und sah Wassermann an.
»Ich liebe Teilchenphysik! Trinken Sie Ihre Cola. Sie sind zu dünn.«
Damit ging er los.
»Quantenphysik!«, rief ihm der Andere hinterher, aber wen interessierte das schon?
* * *
KAPITEL 15 - FAHNDUNG
FAHNDUNG: Maßnahmen zur Ermittlung u. Ergreifung von Tätern oder Zeugen von Straftaten (Personen-F.) oder von bei Straftaten abhanden gekommenen Sachen (Sach-F.) durch den F.sdienst, einen Dienstzweig der Kriminalpolizei.
(Bertelsmann Lexikon, Gütersloh, 1991)
Das Foto von Anna Koss traf mich wie ein Schock. Ich kannte die Frau! Als Geist zwar und mit einem viel älteren Gesicht — die Tote auf dem Bild war höchstens zwanzig — aber es gab keinen Zweifel: Es handelte sich um jene Frau, die mir erzählt hatte, wie peinlich ihr der eigene Freitod gewesen war, die von sich
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