Der Weg zur Hölle
geglaubt hatte, sie sei einfach eines dieser beknackten jungen Dinger gewesen, die sich aus einer kruden Form von Ewigkeitsromantik heraus das Leben nehmen, oder besser, es versuchen und manchmal zufällig Erfolg haben.
Das zumindest war in dem Fall anders. Anna Koss hatte nicht einfach ein Zeichen setzen wollen, in der Hoffnung, in letzter Sekunde gefunden zu werden. Die junge Frau wollte offensichtlich sterben. Sie hatte sich erhängt. Ausgerechnet mit einem dünnen Draht, der ihr, wie das Foto anschaulich belegte, beinahe den Kopf abgeschnitten hatte.
Zum ersten Mal in diesem Fall schien sich so etwas wie ein Motiv herauszukristallisieren, und eine ganze Weile saß die Mordkommission schweigend im Versammlungsraum, das abstoßende Bild an der Pinnwand hinter Reemund, und jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.
Wedelbeck fing sich als erster.
»Nur damit ich es richtig verstehe, Chef: Der erste Mord wurde von jemandem begangen, der sich an Eduard Koss rächen wollte und die Enthauptung würde bedeuten, es ging dabei um den Freitod seiner Stieftochter Anna?«
»Ich habe das nicht gesagt«, schnaubte Reemund. »Aber es ist denkbar.«
»Denkbar ist viel. Und obendrein sagen Sie, Medchenwunder wurde von jemand anderem ermordet — einem Trittbrettfahrer? Und der dritte Mord, das sei wieder der erste Täter gewesen, der sauer war, dass wir sein Angebot für einen Schuldigen ausgeschlagen haben? Und der hätte dann plötzlich genau die Mordlust entwickelt, die Sie ihm von Anfang an unterstellten? Verstehe ich das richtig?«
»Wenn Sie das so sagen, klingt es konstruiert, aber ich glaube, genauso hat es sich abgespielt.«
»Oh.« Wedelbeck sah ehrlich verblüfft aus. »Na, wenn das so ist …«
»Hören Sie, Wedelbeck. Ich weiß selber, wie komisch das klingt, aber es ist die erste Theorie, die die ganzen Widersprüche auflöst. Haben Sie getan, worum ich Sie gebeten hatte?«
»Teilweise. Evelyn Koss einzubestellen war nicht möglich. Sie ist verschwunden.«
»Was? Dann schreiben wir sie zur Fahndung aus.«
»Glauben Sie wirklich , sie hat ihren Vater ermordet?«, fragte Bella Weilandt.
Reemund zeigte auf das Bild der toten Anna Koss.
»Halten Sie das nicht für ein ausreichendes Motiv zur Rache?«
»Vorsicht!«, erwiderte seine Kollegin. »Wir wissen bisher nicht, warum sie sich umgebracht hat.«
Der junge Mann, der Nöhl hieß, meldete sich zu Wort.
»Ich war so frei, die Akte der Schweizer Polizei durchzugehen. Es gibt keinen Abschiedsbrief. Es ist vielleicht noch interessant zu erwähnen, dass sie Forstwirtschaft studiert hat und zum Zeitpunkt ihres Selbstmordes in der Schweiz bei einem Auslandssemester war.«
»Wieso in der Schweiz?«, fragte Wedelbeck perplex.
»Wieso nicht?«, antwortete Nöhl.
»Wald, Baum, Motorsägen«, murmelte Weilandt.
»Und trotzdem«, sagte Wedelbeck. »Warum soll ausgerechnet die verbliebene Tochter ihren Vater umgebracht haben? Es gibt viele Menschen, die etwas gegen Eduard Koss hatten.«
Reemund ließ ihn kaum ausreden.
»Wer wusste, dass Anna Koss durch Selbstmord umgekommen ist? Selbst in der Firma, selbst unter Koss' engsten Vertrauten geht man bis heute von einem Unfall aus. Aber seine leibliche Tochter kannte sicher die Wahrheit. Immerhin war sie damals kein kleines Kind mehr.«
»Sie erinnern sich schon noch, wie sehr sie auf der Beerdigung ihres Vaters geheult hat?«
Reemund winkte ab.
»Je tränenreicher, desto leichter zu spielen.«
»Und was ist mit der Tatsache, dass es so einer zierlichen Frau schwergefallen sein dürfte, einen Körper wie den ihres Vaters durch die Gegend zu wuchten?«
»Ich gebe zu, das ist fragwürdig. Aber nicht unmöglich.«
»Ok. Nehmen wir mal an, es könnte so gewesen sein. Wer hat dann Medchenwunder umgebracht?«
»Keine Ahnung. Die Drogentheorie ist Ihre Baustelle. Und Medchenwunder hatte die dazu passende Vergangenheit. Und vergessen Sie den Typen nicht, auf dessen Balkon wir den Kopf gefunden haben. Oder denken Sie an Simmons.«
Wedelbeck schüttelte den Kopf.
»Ich versteh es immernoch nicht. Eben haben Sie gesagt, Koss sei das Opfer eines Racheaktes.«
»Das ist doch ganz einfach. Mörder Eins plant über einen langen Zeitraum hinweg, Eduard Koss umzubringen, aufgrund der Überzeugung, der habe seine Stieftochter in den Selbstmord getrieben. Alles gelingt perfekt, abgesehen vielleicht von dem Versuch, Meyer den Mord anzuhängen. Das alles war, da sind wir uns wohl einig, kein Handeln im Affekt. Er oder sie
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