Der Weg zurück
Ausweg. Man kann die Hefte an die Eltern der Toten schicken.
Aber Willy ist damit nicht einverstanden. »Meinen Sie, dass die Eltern sich darüber freuen werden, wenn sie so ein Heft voll ›Ungenügend‹ und ›Mangelhaft‹ sehen?«, fragt er. »Lassen Sie das lieber!«
Hollermann sieht ihn mit runden Augen an. »Ja, was soll ich denn sonst machen damit?«
»Liegen lassen«, sagt Albert.
Hollermann ist beinahe entrüstet. »Aber das geht doch auf keinen Fall, Troßke, diese Hefte gehören doch nicht der Schule, die kann man doch nicht einfach liegen lassen.«
»O Gott, was für Umstände«, stöhnt Willy und fährt sich durch die Haare. »Geben Sie die Hefte uns, wir werden sie schon besorgen.« Zögernd rückt Hollermann sie raus. »Aber –«, meint er ängstlich, denn es ist ja fremdes Eigentum.
»Ja, ja«, sagt Willy, »alles, was Sie wollen, ganz ordentlich frankiert, mit Anschreiben, beruhigen Sie sich nur! Ordnung muss sein, wenn’s auch wehtut!« Er blinzelt uns zu und zeigt auf seine Stirn.
Nach der Stunde blättern wir unsere Arbeiten durch. Das letzte Thema, das wir als Aufsatz bearbeitet haben, hieß: Warum muss Deutschland den Krieg gewinnen? Das war Anfang 1916 . Einleitung, sechs Beweispunkte, zusammenfassender Schluss. Punkt vier: »Aus religiösen Gründen« habe ich nicht gut gelöst. Mit roter Tinte steht am Rande: sprunghaft und nicht überzeugend. Im Gan zen aber ist die siebenseitige Arbeit mit Zwei minus zensiert, ein gutes Resultat, wenn man die Tatsachen heute danebenhält. Willy liest seine Arbeit in Naturgeschichte: »Das Buschwindröschen und sein Wurzelstock« laut vor. Grinsend sieht er sich um. »Damit sind wir ja wohl fertig, was?«
»Erledigt«, ruft Westerholt.
Ja, erledigt, wahrhaftig! Wir haben alles vergessen, darin liegt bereits das Urteil. Das, was Bethke und Kosole uns beigebracht haben, vergessen wir nicht.
Nachmittags holen Albert und Ludwig mich ab. Wir wollen sehen, wie es unserm Kameraden Giesecke geht. Unterwegs treffen wir Georg Rahe. Er schließt sich uns an, denn er hat Giesecke auch gekannt.
Es ist ein klarer Tag. Vom Hügel, auf dem das Gebäude liegt, kann man weit über die Felder sehen. Gruppenweise arbeiten dort die Irren in ihren blauweiß gestreiften Jacken unter der Aufsicht uniformierter Wärter. Aus einem Fenster des rechten Flügels hören wir Gesang. »An der Saale hellem Strande …« Es muss ein Kranker sein. Sonderbar klingt es durch das Eisengitter: »Und die Wolken ziehen – drüber hin …«
Giesecke ist in einem großen Saal mit einigen anderen Kranken untergebracht. Als wir eintreten, schreit einer grell: »Deckung – Deckung!«, und kriecht unter den Tisch. Die andern kümmern sich nicht darum. Giesecke kommt uns sofort entgegen. Er hat ein schmales, gelbes Gesicht und sieht mit dem spitzen Kinn und den abstehenden Ohren viel jünger aus als früher. Nur seine Augen sind unruhig und alt.
Bevor wir ihn begrüßen können, zieht uns jemand beiseite. »Was Neues draußen?«, fragt er.
»Nein, nichts Neues«, erwidere ich.
»Und die Front? Haben wir Verdun nun endlich?«
Wir sehen uns an. »Es ist ja längst Frieden«, sagt Albert beruhigend.
Er lacht, ein unangenehmes, meckerndes Gelächter. »Lasst euch doch nicht anscheißen! Die wollen euch bloß dumm machen und lauern nur darauf, dass wir rauskommen sollen! Und dann heidi geschnappt und an die Front.« Geheimnisvoll setzt er hinzu: »Mich kriegen sie nicht wieder!«
Giesecke gibt uns die Hand. Wir sind befangen, denn wir hatten gedacht, er würde wie ein Affe rumturnen und toben und Grimassen schneiden oder wenigstens andauernd zittern, wie die Schüttler an den Straßenecken. Stattdessen lächelt er uns mit schiefem, armem Munde an und sagt: »Hättet ihr wohl nicht gedacht, was?«
»Du bist doch ganz gesund«, erwidere ich. »Was hast du denn?« Er streicht sich über die Stirn. »Kopfschmerzen. Wie ein Ring im Hinterkopf. Und dann Fleury …«
Er ist bei den Kämpfen um Fleury verschüttet worden und hat stundenlang mit einem andern zusammengelegen, das Gesicht durch einen Balken gegen dessen Hüfte gepresst, die bis zum Bauch aufgerissen war. Der andere hatte den Kopf frei und schrie. Dann strömte jedes Mal eine Welle Blut über Gieseckes Gesicht. Allmählich drückten sich die Därme aus dem Bauch und drohten ihn zu ersticken. Er musste sie zurückquetschen, um Luft zu kriegen und hörte dabei immer das dumpfe Aufbrüllen des andern, wenn er hineingriff.
Er
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