Der Weg zurück
abgebunden, was wir konnten, aber er blutete weiter, blutete einfach aus. Und hinter ihm stand die ganze Zeit eine riesige Wolke am abendlichen Himmel, eine einzige Wolke, aber sie war ein ganzes Gebirge aus Weiß, Gold und rötlichem Glanz. Unwirklich und herrlich stand sie hinter dem zerschossenen Braun der Landschaft, sie war ganz still und leuchtete, und der Sterbende lag ganz still und blutete, als gehörten sie zusammen, und doch war es für mich unbegreiflich, dass die Wolke so schön und unbeteiligt am Himmel stand, während ein Mensch starb. –
Das letzte Licht der Sonne färbt die Heide mit einem düsteren Rot. Kiebitze flattern klagend auf. Eine Rohrdommel ruft von den Teichen her. Ich starre über die weite, purpurbraune Fläche. – Bei Houthoulst gab es eine Stelle, wo in den Wiesen so viel Mohn wuchs, dass sie ganz rot davon waren. Wir nannten sie die Blutwiesen, denn bei Gewitter hatten sie die fahle Farbe von eben geronnenem, noch frischem Blut. – Dort wurde Köhler verrückt, als wir in einer hellen Nacht, verwüstet und müde, vorbeimarschieren. Er glaubte im unsicheren Licht des Mondes, es seien Blutseen, und wollte hineinspringen. –
Ich fröstle und blicke auf. Was soll das nur? Weshalb kommen diese Erinnerungen jetzt so oft? Und so sonderbar, so ganz anders als draußen im Felde? Bin ich zu viel allein?
Wolf rührt sich neben mir und bellt ganz hoch und leise im Schlaf. Träumt er von seiner Herde? Ich sehe ihn lange an. Dann wecke ich ihn und wir gehen zurück.
Es ist Sonnabend. Ich gehe zu Willy und frage ihn, ob er über Sonntag mit mir in die Stadt fahren will. Doch er weist den Gedanken weit von sich. »Morgen haben wir eine gefüllte Gans hier«, sagt er, »die kann ich auf keinen Fall im Stich lassen. Weshalb willst du denn weg?«
»Ich kann es sonntags hier nicht aushalten«, sage ich.
»Verstehe ich nicht«, meint er, »bei der Verpflegung!«
Ich fahre allein. Abends gehe ich in einer unbestimmten Hoffnung zu Waldmann. Da ist großer Trubel. Ich stehe eine Weile herum und sehe zu. Eine Menge junger Burschen, die gerade noch so am Krieg vorbeigerutscht sind, treibt sich auf dem Parkett herum. Sie sind selbstsicher und wissen, was sie wollen, ihre Welt hat einen klaren Anfang und ein klares Ziel: den Erfolg. Sie sind viel fertiger als wir, obschon sie jünger sind.
Unter den Tanzenden entdecke ich die zierliche, kleine Näherin, mit der ich den Onestep gewonnen habe. Ich fordere sie zu einem Walzer auf, und wir bleiben dann zusammen. Vor ein paar Tagen habe ich mein Gehalt bekommen, davon bestelle ich jetzt ein paar Flaschen süßen, roten Wein. Wir trinken ihn langsam, und je mehr ich trinke, desto mehr gerate ich in eine sonderbare Schwermut. Was sagte Albert damals? Einen Menschen haben, der einem gehört.
Nachdenklich höre ich dem Geplauder des Mädchens zu, das wie ein Schwälbchen zwitschert von Kolleginnen, vom Stücklohn für Weißwäsche, von neuen Tänzen und tausend nichtigen Dingen. Wenn der Stücklohn um zwanzig Pfennig erhöht würde, könnte sie mittags ins Restaurant essen gehen, dann wäre sie zufrieden. Ich beneide sie um ihr klares, einfaches Dasein und frage sie immer weiter. Ich möchte jeden Menschen, der hier lacht und fröhlich ist, fragen, wie er lebt. Vielleicht wäre einer dabei, der mir etwas erzählen könnte, das mir helfen würde.
Nachher bringe ich das Schwälbchen nach Hause. Sie wohnt in einer grauen Mietskaserne unter dem Dach. Vor der Tür bleiben wir stehen. Ich fühle die Wärme ihrer Hand in meiner. Ungewiss schimmert ihr Gesicht aus dem Dunkel. Ein Menschengesicht, eine Hand, in der Wärme und Leben ist – »lass mich mitgehen«, sage ich hastig, »lass mich mitgehen. –«
Wir schleichen vorsichtig die knarrenden Treppen hinauf. Ich zünde ein Streichholz an, aber sie bläst es gleich wieder aus, fasst mich bei der Hand und zieht mich hinter sich her.
Ein schmales Zimmerchen. Ein Tisch, ein braunes Sofa, ein Bett, ein paar Bilder an der Wand, in der Ecke die Nähmaschine, eine Probierpuppe aus Rohr und ein Korb mit weißer Nähwäsche.
Hurtig holt die Kleine einen Spirituskocher hervor und macht aus Apfelschalen und zehnfach aufgekochten und wieder getrockneten Teeblättern Tee zurecht. Zwei Tassen, ein lachendes, etwas verschmitztes Gesichtchen, ein rührend blaues Kleidchen, die freundliche Armut eines Zimmers, ein Schwälbchen, dessen Jugend sein einziger Besitz ist – ich setze mich ins Sofa. Beginnt so die Liebe? So leicht
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