Der Weg zurück
und markigen Worten kriegsbegeisterter Pastöre.
Ludwig kommt zurück. Ich flüstere ihm zu: »Geh noch einmal zu einem anderen Arzt, der hier kann bestimmt nichts. Keine Ahnung hat der.« Er macht eine müde Geste, und wir gehen schweigend die Treppen hinunter. Unten sagt er plötzlich, mit abgewandtem Gesicht: »Auf Wiedersehen dann. –«
Ich sehe auf. Er lehnt am Geländer und hält krampfhaft die Hände in den Taschen.
»Was ist denn?«, frage ich erschrocken.
»Ich will jetzt gehen«, antwortet er.
»Dann gib mir wenigstens die Pfote«, sage ich verwundert. Mit zuckendem Mund erwidert er: »Magst mich doch wohl nicht mehr anfassen, jetzt. –«
Scheu und schmal steht er am Geländer, in derselben Haltung, in der er immer an der Grabenböschung lehnte, mit traurigem Gesicht und gesenkten Augen. – »Ach Ludwig, Ludwig, was machen sie hier bloß mit uns – ich dich nicht anfassen, du Kaffer du, du dummes Luder, da fass ich dich an, hundertmal fass ich dich an –«, es stößt mich nur so, verflucht, jetzt heule ich sogar, ich Esel, und nehme ihn um die Schulter und presse ihn an mich und fühle, wie er bebt –, »ach Ludwig, das ist ja alles Quatsch, und vielleicht habe ich sie sogar auch, nun sei doch stille, das kriegt die Brillenschlange da oben ja schon alles wieder zurecht« – und er bebt und bebt, und ich halte ihn fest.
II
Für den Nachmittag sind in der Stadt Demonstrationen angesagt. Seit Monaten steigen überall die Preise, und die Not ist größer als im Krieg geworden. Die Löhne reichen nicht aus, um das Notwendigste zu beschaffen, und selbst wenn man Geld hat, kann man oft nicht einmal etwas dafür kaufen. Aber immer mehr Likörstuben und Tanzlokale erstehen, und immer stärker wird das Schiebertum und der Betrug.
Vereinzelte Gruppen von streikenden Arbeitern ziehen durch die Straße. Ab und zu entsteht ein Auflauf. Es heißt, dass Militär in den Kasernen zusammengezogen worden sein soll. Aber davon ist noch nichts zu sehen. Hoch- und Niederrufe erschallen. An einer Straßenecke redet jemand. Doch dann schweigt plötzlich alles. – Langsam kommt ein Zug Menschen heran in den verblichenen Uniformen der Front. Er ist gruppenweise formiert, immer zu vieren nebeneinander. Große Schilder werden vorangetragen: »Wo bleibt der Dank des Vaterlandes?« – »Die Kriegskrüppel hungern.«
Es sind Einarmige, die diese Schilder tragen. Sie schauen sich oft um, ob der Zug auch richtig hinter ihnen herkommt. Denn sie sind die schnellsten.
Ihnen folgen Leute mit Schäferhunden an kurzen Lederriemen. Die Tiere tragen das rote Blindenkreuz auf dem Geschirr. Aufmerksam gehen sie neben ihren Herren her. Stockt der Zug, so setzen sie sich sofort, und die Blinden bleiben stehen. Manchmal stürzen Hunde von der Straße kläffend und schweifwedelnd in den Zug hinein, um mit ihnen zu spielen und zu balgen. Sie aber wenden nur den Kopf und kümmern sich nicht um das Schnuppern und Bellen. Wohl sind ihre Ohren noch straff, aufmerksam gespitzt, und lebhaft die Augen; aber sie gehen, als wollten sie nie mehr laufen und springen, als begriffen sie, wofür sie da sind. Sie unterscheiden sich von ihren Genossen wie barmherzige Schwestern von fröhlichen Ladenmädchen. Die andern Hunde versuchen es auch nicht lange; nach wenigen Minuten lassen sie ab und trollen sich so eilig, dass es aussieht, als flüchteten sie vor etwas. Nur ein mächtiger Fleischerhund bleibt stehen und bellt, mit breit auseinander gestellten Vorderbeinen, langsam, tief und klagend, bis der Zug an ihm vorüber ist. –
Es ist sonderbar – diese Menschen sind alle blindgeschossen; sie bewegen sich deshalb anders als Blindgeborene. Sie sind ungestümer und gleichzeitig vorsichtiger in den Gesten, die noch nicht die Sicherheit vieler dunkler Jahre haben. In ihnen lebt noch die Erinnerung an Farben, Himmel, Erde und Dämmerung. Sie bewegen sich noch so, als ob sie Augen hätten, unwillkürlich heben und wenden sie die Köpfe, um den anzusehen, der mit ihnen spricht. Manche tragen schwarze Klappen oder Binden auf den Augen, die meisten aber gehen ohne sie, als ob sie dadurch den Farben und dem Licht noch ein wenig näher wären. Das blasse Abendrot schimmert hinter ihren gesenkten Köpfen. In den Schaufenstern beginnen die ersten Lampen zu brennen. Sie aber spüren kaum die milde und zärtliche Luft des Abends an ihren Stirnen – mit ihren groben Stiefeln gehen sie langsam durch die ewige Dunkelheit, die um sie wie eine Wolke gebreitet ist,
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