Der Weg zurück
im Leben zu reden. Ich höre ihm gerührt und gelangweilt zu und denke daran, wie sonderbar es ist, dass dieser Mann im Sofa mein Vater ist, der früher über mein Dasein bestimmte. Aber er hat mich nicht schützen können in den Jahren draußen, er konnte mir nicht einmal helfen in der Kaserne, jeder Unteroffizier war dort stärker als er. Ich habe alles allein durchmachen müssen, und es war ganz gleichgültig, ob er existierte oder nicht.
Als er geendet hat, schenke ich ihm einen cognac ein. »Sieh mal, Vater«, sage ich und setze mich zu ihm, »du magst recht haben. Aber ich habe gelernt, in einer Erdhöhle zu hausen, mit einem Kanten Brot und einer dünnen Suppe. Und wenn mal gerade nicht geschossen wurde, war ich schon zufrieden. Eine alte Baracke erschien mir bereits als Luxus, und ein Strohsack im Ruhequartier war das Paradies. Da musst du begreifen, dass die Tatsache, dass ich lebe und dass nicht mehr geschossen wird, mir einstweilen genügt. Das bisschen Essen und Trinken, das ich brauche, werde ich wohl zusammenbekommen, und für alles andere habe ich ja mein ganzes Leben lang noch Zeit.«
»Ja, aber«, erwidert er, »das ist doch kein Leben, so ins Blaue hinein …«
»Je nachdem«, sage ich, »ich finde, es ist kein Leben, wenn ich später einmal sagen kann, dass ich dreißig Jahre lang täglich in dasselbe Schulzimmer oder dasselbe Büro gegangen bin.«
Verwundert antwortet er: »Ich gehe jetzt seit zwanzig Jahren zur Kartonagenfabrik und habe es immerhin dazu gebracht, dass ich selbstständiger Meister bin.«
»Ich will es ja zu nichts bringen, Vater, ich will nur leben.«
»Ich habe auch rechtschaffen gelebt«, sagt er mit einem Anflug von Stolz, »ich bin nicht umsonst zum Mitglied der Handwerkskammer gewählt worden.«
»Sei froh, dass du es so einfach gehabt hast«, entgegne ich.
»Aber du musst doch etwas werden«, klagt er.
»Ich kann vorläufig im Geschäft eines Kriegskameraden arbeiten, er hat es mir angeboten«, sage ich, um ihn zu beruhigen, »da verdiene ich so viel, wie ich brauche.«
Er schüttelt den Kopf. »Und dafür gibst du die schöne Beamtenstellung auf?«
»Ich habe schon oft was aufgeben müssen, Vater.«
Er zieht bekümmert an seiner Zigarre. »Und du warst sogar pensionsberechtigt.«
»Ach«, sage ich, »wer wird denn von uns Soldaten sechzig Jahre alt? Wir haben so viel in den Knochen, das sich erst später zeigen wird – wir schrammen bestimmt früher ab.« Ich kann mir mit dem besten Willen nicht vorstellen, dass ich sechzig Jahre alt werde. Ich habe zu viele Menschen mit zwanzig sterben sehen. Nachdenklich rauche ich und betrachte meinen Vater. Ich empfinde immer noch, dass er mein Vater ist – doch er ist außerdem noch ein lieber, älterer Mann, vorsichtig und pedantisch, dessen Ansichten für mich keinerlei Bedeutung mehr haben. Ich kann mir gut vorstellen, wie er im Felde gewesen wäre; man hätte immer etwas auf ihn aufpassen müssen, und Unteroffizier wäre er sicher nie geworden.
Nachmittags besuche ich Ludwig. Er sitzt unter einem Haufen Broschüren und Bücher. Ich möchte gern mit ihm über vieles reden, was mir am Herzen liegt, denn ich habe das Gefühl, dass er mir vielleicht einen Weg zeigen kann. Aber er ist heute selber unruhig und erregt. Wir reden eine Weile belangloses Zeug hin und her, dann sagt er: »Ich muss jetzt zum Arzt.«
»Noch immer wegen der Ruhr?«, frage ich.
»Nein – wegen was anderem.«
»Was hast du denn noch, Ludwig?«, frage ich verwundert. Er schweigt eine Weile. Seine Lippen zittern. Dann sagt er:
»Ich weiß es nicht.«
»Soll ich mitgehen? Ich habe sowieso nichts vor.«
Er sucht nach seiner Mütze. »Ja, komm nur mit.«
Unterwegs sieht er mich manchmal verstohlen von der Seite an. Er ist seltsam gedrückt und schweigsam. Wir biegen in die Lindenstraße und gehen in ein Haus, das einen kleinen, trostlosen Vorgarten mit Sträuchern hat. Ich lese das weiße Emailleschild an der Tür: Dr. med. Friedrich Schultz, Spezialarzt für Haut-, Harn- und Geschlechtskrankheiten, und bleibe stehen. »Was ist denn los, Ludwig?«
Er sieht mich blass an. »Noch nichts, Ernst. Hab da mal so ein Geschwür gehabt. Und jetzt ist was wiedergekommen.«
»Wenn’s weiter nichts ist, Ludwig«, sage ich erleichtert, »was habe ich schon für Furunkel gehabt! Wie Kinderköppe. Das kommt von dem Ersatzfraß.«
Wir klingeln. Eine Schwester in weißer Tracht macht uns auf. Wir sind beide ungeheuer verlegen und gehen mit roten Köpfen ins
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