Der Weg zurück
Wartezimmer. Dort sind wir gottlob allein. Ein Stoß Hefte von der »Woche« liegt auf dem Tisch. Wir blättern darin. Sie sind ziemlich alt. Man ist da gerade beim Frieden von Brest-Litowsk.
Der Arzt kommt herein. Seine Brille funkelt. Die Tür zum Sprechzimmer bleibt hinter ihm halb offen stehen. Ein Stuhl aus Nickelröhren und Leder ist darin zu sehen, beklemmend praktisch und peinlich.
Komisch, dass so viele Ärzte eine Vorliebe haben, die Patienten wie kleine Kinder zu behandeln. Bei Zahnklempnern gehört das ja direkt zum Studium, aber auch diese Sorte hier scheint so zu sein.
»Na, Herr Breyer«, schäkert die Brillenschlange, »ein bisschen befreunden müssen wir uns ja nun demnächst.« Ludwig steht wie ein Gespenst und würgt. »Ist es …« Der Arzt nickt aufmunternd. »Ja, die Blutprobe ist zurück. Positiv. Jetzt werden wir dem Gesindel mal kräftig zu Leibe gehen.«
»Positiv«, stammelt Ludwig, »das heißt also …«
»Ja«, sagt der Arzt, »wir müssen eine kleine Kur machen.«
»Das heißt also, dass ich Syphilis habe?«
»Ja.«
Ein Brummer summt durch das Zimmer und bumst gegen das Fenster. Die Zeit stockt. Quallig klebt die Luft zwischen den Wänden. Die Welt hat sich verändert. Eine furchtbare Angst ist zu einer furchtbaren Gewissheit geworden.
»Kann es nicht ein Irrtum sein?«, fragt Ludwig, »kann man nicht eine zweite Blutprobe machen?«
Der Arzt schüttelt den Kopf. »Es ist besser, bald mit der Kur anzufangen. Das Stadium ist sekundär.«
Ludwig schluckt. »Ist es heilbar?«
Der Arzt belebt sich. Sein Gesicht ist geradezu fröhlich vor Vertrauen. »Aber durchaus. Hier diese Röhrchen, ein halbes Jahr zunächst einmal eingespritzt. Dann werden wir weitersehen. Vielleicht ist dann schon kaum noch etwas nötig. Lues ist heute heilbar.«
Lues – scheußliches Wort, das klingt, als wäre es eine dünne, schwarze Schlange.
»Haben Sie es im Felde bekommen?«, fragt der Arzt. Ludwig nickt.
»Warum haben Sie es nicht gleich behandeln lassen?«
»Ich habe nicht gewusst, was es war. Man hat uns früher ja nie etwas von diesen Dingen gesagt. Es kam auch erst viel später und sah harmlos aus. Dann ging es von selbst wieder weg.«
Der Arzt schüttelt den Kopf. »Ja, das ist die Kehrseite der Medaille«, sagt er leichthin.
Ich möchte ihm am liebsten einen Stuhl an den Schädel knallen. Was ahnt der denn davon, wie das ist, wenn man drei Tage Urlaub nach Brüssel hat und aus Trichtern, Kotzen, Dreck und Blut mit dem Abendzug ankommt in einer Stadt mit Straßen, Laternen, Lichtern, Läden und Frauen, mit richtigen Hotelzimmern und weißen Badewannen, in denen man planschen und den Schmutz abscheuern kann, mit leiser Musik, Terrassen und kühlem, schwerem Wein, was ahnt der denn von dem Zauber, den der blaue Dunst der Dämmerung schon hat in so einem schmalen Augenblick zwischen Grauen und Grauen; wie ein Riss in den Wolken ist das, wie ein wilder Aufschrei des Lebens in der kurzen Pause zwischen Tod und Tod. Wer weiß, ob man nicht in ein paar Tagen schon im Drahtverhau mit zerrissenen Knochen hängt und brüllt, verdurstet, verreckt. – Noch einen Schluck von dem schweren Wein, noch einen Atemzug und einen Blick in diese unwirkliche Welt der gleitenden Farben, der Träume, der Frauen und des erregenden Flüsterns, der Worte, unter denen das Blut wie eine schwarze Fontäne wird, unter denen Jahre des Drecks, der Wut und der Hoffnungslosigkeit zerschmelzen und zu einem süßen, singenden Wirbel von Erinnerung und Hoffnung werden. Morgen rast der Tod wieder heran mit Geschützen, Handgranaten, Flammenwerfern, Blut und Vernichtung – aber heute noch ist diese sanfte Haut da, sie duftet und ruft wie das Leben selbst, sie lockt unfassbar, verwirrende Schatten im Nacken, weiche Arme, es knistert und blitzt und stürzt und strömt, der Himmel brennt. – Wer denkt da noch daran, dass in diesem Flüstern und Locken, diesem Duft, dieser Haut das andere liegen kann, lauernd, verborgen, schleichend, wartend: Lues – wer weiß es, und wer will es wissen, wer denkt überhaupt weiter als über das Heute hinaus – morgen ist vielleicht alles schon vorbei – verdammter Krieg, der uns lehrte, nur den Augenblick zu sehen und zu nehmen.
»Und nun?«, fragt Ludwig.
»So bald wie möglich anfangen.«
»Dann jetzt«, sagt Ludwig ruhig. Er geht mit dem Arzt in das Sprechzimmer.
Ich bleibe im Wartezimmer und zerreiße ein paar Hefte von der »Woche«, in denen es nur so flimmert von Paraden, Siegen
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