Der Weg zurück
gegen ein so unbegreifliches Wunder wie eine atmende Brust, eine pulsierende Lunge, ein lebendiges Herz richtet? Soll ich euch erzählen, was eine Tetanuslähmung, ein zerrissenes Rückenmark, eine abgerissene Schädeldecke ist? Soll ich euch beschreiben, wie herumspritzendes Gehirn, wie zerfetzte Knochen, wie herausquellende Därme aussehen? Soll ich euch vormachen, wie man mit einem Bauchschuss stöhnt, mit einem Lungenschuss röchelt, mit einem Kopfschuss pfeift? Mehr weiß ich nicht! Mehr habe ich nicht gelernt!
Soll ich euch an die grüne und graue Landkarte drüben führen, mit dem Finger darüberfahren und euch sagen, dass hier die Liebe ermordet wurde? Soll ich euch erklären, dass die Bücher, die ihr in Händen haltet, Netze sind, mit denen man eure arglosen Seelen in das Gestrüpp der Phrasen und in die Drahtverhaue der gefälschten Begriffe lockt?
Da stehe ich vor euch, ein Befleckter, ein Schuldiger, und müsste euch bitten: Bleibt wie ihr seid und lasst das warme Licht der Kindheit nicht zur Stichflamme des Hasses missbrauchen! Um eure Stirnen ist noch der Hauch der Unschuld – wie kann ich euch da lehren wollen! Hinter mir jagen noch die blutigen Schatten der Vergangenheit – wie kann ich mich da zwischen euch wagen? Muss ich nicht selbst erst wieder ein Mensch werden?
Ich fühle, wie ein Krampf sich in mir ausbreitet, als würde ich zu Stein und müsste bröckelnd zerfallen. Langsam lasse ich mich in den Stuhl sinken und begreife, dass ich nicht mehr hierbleiben kann. Ich versuche, etwas zu erfassen, aber ich kann es nicht. Erst nach einiger Zeit, die mir endlos erscheint, löst sich die Starre. Ich stehe auf. »Kinder«, sage ich mit Mühe, »ihr könnt gehen. Heute ist schulfrei.«
Die Kleinen sehen mich an, ob ich auch keinen Scherz mache. Ich nicke noch einmal. »Ja, es ist wahr – geht spielen heute – den ganzen Tag – geht spielen in den Wald – oder mit euren Hunden und Katzen – ihr braucht erst morgen wiederzukommen. –«
Da werfen sie klappernd die Federkästen in die Tornister und drängen zwitschernd und atemlos hinaus.
Ich packe meine Sachen und gehe zum Nachbardorf, um mich von Willy zu verabschieden. Er lehnt in Hemdsärmeln am Fenster und übt auf der Geige »Alles neu macht der Mai«. Auf dem Tisch steht ein reichhaltiges Essen.
»Mein drittes heute«, erklärt er befriedigt, »ich habe gemerkt, dass ich auf Vorrat fressen kann wie ein Kamel.«
Ich sage ihm, dass ich heute Abend wieder abreisen will. Willy ist kein Mann, der lange fragt. »Ich will dir was sagen, Ernst«, meint er nachdenklich, »langweilig ist es hier ja – aber solange ich solches Futter habe«, er zeigt auf den Tisch, »kriegen mich keine zehn Pferde aus dem Pestalozzistall wieder heraus.«
Damit holt er einen Kasten Flaschenbier unter dem Sofa hervor. »Starkstrom«, schmunzelt er und hält das Etikett gegen die Lampe.
Ich sehe ihn lange an. »Mensch, Willy, ich wollte, ich wäre wie du!«, sage ich dann.
»Das glaube ich«, schmunzelt er und lässt einen Flaschenverschluss knallen.
Als ich zum Bahnhof gehe, kommen aus dem Nachbarhaus ein paar Mädchen mit verschmierten Mäulchen und wippenden Haarschleifen angelaufen. Sie haben gerade im Garten einen toten Maulwurf begraben und für ihn gebetet. Jetzt knicksen sie und halten mir die Hände hin. »Wiedersehen, Herr Lehrer.«
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Sechster Teil
I
»Ernst, ich muss mit dir sprechen«, sagt mein Vater.
Ich kann mir schon vorstellen, was kommt. Seit Tagen geht er mit sorgenvoller Miene umher und macht Andeutungen. Aber ich bin ihm bislang immer entwischt, denn ich bin selten zu Hause.
Wir gehen in mein Zimmer. Er setzt sich ins Sofa und sieht bekümmert drein. »Wir machen uns Gedanken um deine Zukunft, Ernst.«
Ich hole eine Kiste Zigarren aus dem Bücherbord und biete sie ihm an. Sein Gesicht erhellt sich etwas, denn die Zigarre ist gut – ich habe sie von Karl bekommen, und Karl raucht kein Buchenlaub.
»Hast du wirklich deine Stelle als Lehrer aufgegeben?«, fragt er. Ich nicke.
»Warum hast du das nur getan?«
Ich zucke die Achseln. Wie soll ich ihm das bloß erklären? Wir sind zwei völlig verschiedene Menschen und haben uns nur deshalb bis jetzt ganz gut verstanden, weil wir uns überhaupt nicht verstanden haben.
»Und was soll nun werden?«, fragt er weiter.
»Irgendetwas«, sage ich, »das ist doch egal.«
Er blickt mich erschreckt an und beginnt dann von einem guten, geachteten Beruf, von Vorwärtskommen und einem Platz
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