Der Weihnachtspullover
Mal Schluss.
»Natürlich. Tut mir leid, Eddie«, erwiderte Tante Cathryn. »Ich habe nur nach einem Weihnachtslied gesucht, damit wir unsere Harmonie ein wenig üben können.«
Ich ließ ein unfreiwilliges Lachen vernehmen. »Harmonie? Wenn du glaubst, unser Gesang wäre in irgendeiner Weise harmonisch, dann bist du aber so taub wie unser Publikum.«
Der hatte gesessen.
Ich schaute auf und begegnete den Augen meiner Mutter, die mich im Rückspiegel wütend anstarrte. Meine Mutter konnte eine ganze Standpauke nur mit ihren Augenhalten, so ausdrucksstark waren sie. Und im Augenblick bedeuteten sie mir, mich zurückzulehnen und den Mund zu halten.
»MOM!« Der Verkehr vor uns war völlig zum Stillstand gekommen. Meine Mutter wandte ihre Aufmerksamkeit rasch wieder der Straße zu und ging in die Eisen. Wir kamen mit kreischenden Bremsen nur wenige Zentimeter hinter der Stoßstange des Wagens vor uns zum Stehen. Moms Augen suchten die meinen erneut im Rückspiegel, aber dieses Mal war darin keine Wut zu erkennen, sondern nur Besorgnis.
»Eddie, alles in Ordnung bei dir?«
»Mir geht’s gut, Mom.« Ich fühlte mich für die Sache verantwortlich, weil sie sich durch meine blöde Bemerkung hatte ablenken lassen.
»Sieht so aus, als hätte es da vorn einen Unfall gegeben. Wie gut, dass wir nicht darin verwickelt sind.«
Wir kamen nur sehr stockend voran. Eine Kakophonie von Autohupen übertönte das Weihnachtslied, das im Radio lief.
Ungefähr zwanzig Minuten später erblickten wir endlich das Blaulicht der Polizei und blinkende Warnlichter. Die Unfallwagen waren bereits abtransportiert worden, aber die Straße war noch mit zerbrochenem Glas übersät. Ich schaute in den Rückspiegel und sah, dass meine Mutter den Kopf gebeugt hatte und ein stilles Gebet sprach.
Nachdem wir die Unfallstelle passiert hatten, floss der Verkehr wieder ungehindert, doch inzwischen drohten wir das Weihnachtssingen zu verpassen.
»Was meinst du, Eddie, sollen wir uns lieber wieder auf den Heimweg machen?«, fragte Mom.
Es gefiel mir, dass sie mich offensichtlich für alt genug erachtete, um ein Stimmrecht zu haben. Mein erster Impuls war zu antworten: »Oh ja, lass uns wieder nach Hause fahren.« Doch dann wurde mir klar, dass dies eine Gelegenheit war, mein früheres Verhalten wiedergutzumachen.
»Ach nein, lass uns weiterfahren«, erwiderte ich leutselig. »Wenn wir das Singen verpassen sollten, können wir wenigstens allen Guten Tag sagen.«
Meine Mutter schaute mich beeindruckt im Rückspiegel an. Ihre Augen sagten wieder einmal alles: Ich hatte die richtige Antwort gegeben.
Ein paar Minuten später bogen wir auf den Parkplatz des Pflegeheims ein. Auch wenn ich wusste, dass mich während des zweiundvierzigsekündigen Fußwegs zur Eingangstür niemand sehen würde, fühlte ich mich dennoch unbehaglich.
Im Pflegeheim war es für meinen Geschmack viel zu warm, und da war dieser unverwechselbare Geruch. Als wir den Flur zum Aufenthaltsraum entlanggingen, vernahmen wir bereits Gesang. Anfangs waren es nur gedämpfteKlänge, doch als wir näher kamen, konnte ich den Text von »Gott mit euch, bis wir uns wiedersehn« hören.
Es war eigentlich gar kein Weihnachtslied, aber mein Dad hatte immer darauf bestanden, dass es jedes Jahr das letzte Lied war, das wir sangen. Für ihn war es gut und schön, den Weihnachtsmann und den Schnee zu erwähnen, aber was für ihn wirklich zählte, war, die Menschen mit dem Geist der Weihnacht zu erfüllen – und mit diesem Lied funktionierte das immer. Ich versuchte im ersten Jahr dagegen zu protestieren, aber als ich die Tränen in den Augen des Publikums sah, als wir es sangen, da wusste ich, dass Dad recht hatte.
Gott mit euch, bis wir uns wiedersehn!
Mög er ratend ob euch walten,
euch bei seiner Herd’ erhalten!
Gott mit euch, bis wir uns wiedersehn!
Nach Dads Tod hörten wir auf, dieses Lied zu singen, denn jeder wusste, dass es Mom und mir zu schwer fallen würde, es zu hören. Doch wegen unserer verspäteten Ankunft in diesem Jahr hatten die anderen die Gelegenheit genutzt, es ohne uns zu singen. Nun, da die vertrauten Worte eine neue und ungewohnte Bedeutung annahmen, kamen mir eine Reihe von ungebetenen Erinnerungen in den Sinn.
Ich war sechs. Dad hob mich hoch, damit ich den Stern auf die Spitze unseres Christbaums setzen konnte.
Ich war sieben. Dad baute meine neue Modelleisenbahn auf und spielte den ganzen Tag mit mir – und beschwerte sich nicht ein einziges Mal, wenn
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