Der Weihnachtspullover
wollte, damit ich zugab, ihren Zettel unter dem Bett gelesen zu haben. Ich blieb stumm und schaute zur Seite.
»Meist konzentrieren wir uns so sehr auf etwas, vondem wir glauben, dass wir es wollen, dass wir gar nicht mehr wahrnehmen, wie glücklich wir eigentlich schon sind«, fuhr sie fort. »Erst wenn wir unsere Probleme vergessen und anderen dabei helfen, die ihren zu vergessen, wird uns bewusst, wie gut wir es eigentlich haben.«
Ich wusste, dass sie recht hatte, aber ich war viel mehr daran interessiert, mich fürs Bett fertig zu machen, als eine tiefschürfende Unterhaltung zu führen. Es war Heiligabend, und ich war nur noch Stunden davon entfernt, endlich das Fahrrad zu bekommen, das mein Leben verändern würde.
Ich huschte nach oben, putzte mir so schnell es nur ging die Zähne und zog meinen lavendelblauen Weihnachtspyjama an. Auch wenn ich nicht wollte, dass mich irgendjemand darin sah, stimmte es mich doch ein wenig traurig, dass ich ihn wahrscheinlich zum letzten Mal tragen würde. Meine Großmutter nähte mir jedes Jahr zu Weihnachten einen neuen, den sie mir dann unter den Baum legte, und auch wenn ein Pyjama nicht mit einem Fahrrad zu konkurrieren vermochte, so war es doch ein Geschenk, auf das ich mich immer freute. Jedes Mal, wenn ich meinen Pyjama anzog, dachte ich an sie. Meine Großmutter war wie einer dieser Mammutbäume – stark und still, und ich fühlte mich immer sicher im Schatten ihrer Liebe.
»Mom«, sagte ich leise, als ich unter die Decke schlüpfte. »Ich bin zwölf. Musst du mich denn immer noch zudecken?«
»Jawohl, das muss ich.«
»Aber ich bin doch schon beinahe ein Mann.« Vermutlich hätten die Worte mehr Eindruck gemacht, wenn ich dabei nicht unter einer Star-Wars-Bettdecke gelegen hätte.
»Ich könnte mir vorstellen, dass einmal der Tag kommen wird, an dem wir beide wissen, dass es Zeit für eine Veränderung ist. Im Übrigen decke ich dich gar nicht mehr zu, junger Mann . Ich setze mich einfach ein paar Minuten zu dir und sage gute Nacht. Das ist ein Unterschied.«
»In Ordnung.«
»Außerdem wollte ich mit dir über heute Abend reden. Ich weiß, dass du das Lied gehört hast.«
Schlaf und Weihnachten waren so nahe. Das Letzte, was ich jetzt wollte, war, mir eine weitere von Moms Lebensweisheiten anzuhören. »Welches Lied?«
Sie ignorierte meinen halbherzigen Versuch, mich unwissend zu stellen. »Dein Vater hat mir dieses Lied zum Abschied vorgesungen, als wir das erste Mal miteinander ausgegangen sind. ›Wiedersehn, wiedersehn, Gott mit euch, bis wir uns wiedersehn!‹« Sie lachte. »Er hatte eine schreckliche Singstimme. Ihr Klang ließ mich zusammenzucken, aber ich fand es unglaublich süß von ihm. Als ich Großmutter erzählt habe, was er getan hat, ist sie natürlich dahingeschmolzen. ›Den Mann musst du festhalten‹,hat sie mir gesagt, als könne das Singen eines Kirchenliedes einen Mann irgendwie perfekt machen. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, dass Dad es wahrscheinlich eher im Radio gehört hatte als in der Kirche.«
Ich gab mein Bestes, um keine Emotionen zu zeigen. Wenn Mom gut darin war, mit ihren Augen zu sprechen, dann war sie bestimmt auch gut darin, aus denen anderer zu lesen, und ich wollte sie nicht dazu ermuntern weiterzureden. Aber es funktionierte nicht. Sie redete weiter.
»Ich habe gesehen, wie du dir dieses Lied da draußen im Flur angehört hast. Ich weiß, wie sehr du Dad vermisst. Ich vermisse ihn auch. Jeden Tag, mehr und mehr. Aber er ist nicht wirklich fort. Er ist hier und passt auf dich auf.«
Meine Mutter hatte natürlich wie immer recht. Ich vermisste Dad. Vermisste ihn ganz furchtbar. Vielleicht war ich noch zu jung gewesen, um zu seinen Lebzeiten zu begreifen, was ich an ihm hatte, oder vielleicht hat er auch einfach zu viel gearbeitet, aber im Nachhinein war mir in aller Deutlichkeit klar, was ich verloren hatte. Und das tat richtig weh.
»Aber du übersiehst dabei, worum es in diesem Lied eigentlich geht, mein Schatz«, fuhr meine Mutter fort. »Du übersiehst den wichtigsten Teil und den Grund, warum Dad es immer so gern gesungen hat.« Sie begann leise die Worte zu singen. ›Wenn sich Wetterwolken türmen, mög sein ew’ger Arm euch schirmen.‹
Sie schwieg für einen Moment. »Das bedeutet, dass Gott über dich wacht, Eddie. Er hat seine Arme um dich gelegt. So wie er sie auch immer um Dad gelegt hatte. Wann immer er einen schweren Tag in der Bäckerei hatte, habe ich ihm diese Worte
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