Der Wein des Frevels
trank. Francis erfuhr, wie das Gebräu hieß – Rizka. Es war heiß und dick und furchtbar süß.
Lix holte seine Flöte, und bald sang die Familie voller Inbrunst Madrigale. Francis war nicht verlegen, weil er nicht mit einstimmen konnte. Er saß da, lauschte der Musik, war glücklich – abgesehen von jenen Momenten, wenn ihn plötzlich der Gedanke an Tez durchfuhr und er mehrere Minuten brauchte, um ihn wieder in den Hintergrund seines Bewußtseins zu verbannen. Dabei half ihm der Rizka – nicht weil er Alkohol enthielt, sondern weil überhaupt keiner darin war. Gerade durch seinen Alkoholmangel schmeckte derRizka so verdammt gut, daß man ganz trunken davon wurde. Er überlegte, ob er seine Abneigung gegen Souvenirs nicht aufgeben und das Rezept auf die Nerde mitnehmen sollte.
Bevor er in dieser Nacht einschlief, drehte er sich auf den Bauch und blickte durch die offene Küchentür zu der strahlenden Metropole hinüber, starrte auf die fragilen Türme, die hohen, schaumigen Mauern, die kegelförmigen Bauten. Die Kerzen waren noch lange nicht herabgebrannt, und der Berg von Geschenken leuchtete noch immer so bunt wie zuvor. In dieser Hütte herrscht eine verwirrende Güte, dachte er, eine Güte, die überleben muß. Die Quetzalianer teilen ihren Tee mit Wildfremden und verabschieden sie dann mit Geschenken, die ihnen das Gefühl geben, geliebt zu werden.
Er glaubte nicht, daß die Cies-Familie sich vorstellte, er könnte ebensogut in Fleisch stechen wie in Feuermoos. Für Francis war das Messer nicht mehr und nicht weniger als sein allererstes Legendenabendgeschenk.
Sie träumte immer dasselbe. Bei einer großen Überschwemmung trat der Fluß des Hasses über seine Ufer, ergoß sich über das Land, hinterließ verwüstete Städte und reingewaschene Gebeine. Millionen flohen vor dem Moloch – nicht aber Tez. Sie hielt ihre Stellung, schüttelte wütend die Fäuste, als die Quecksilberwelle sie ansprang. Und dann gefror Noctus plötzlich mitten in der Luft zu einem Kohlenberg.
Aus seinem Innern drang ein Klopfen. Irgend jemand bahnte sich einen Weg in die Welt.
Auf einmal stand ein riesiger menschlicher Fötus, so groß wie ein sich aufbäumender Lipoca, feucht und rund inmitten der Gallensplitter. Große blaue Augen strahlten unter einer Stirn, die sich über unzähligen Neuronen wölbte. Der Mund bewegte sich.
» Vater hat mich getötet«, sagte der Fötus in dumpfem Krächzen und hob einen gleißenden Finger. »Du warst es nicht.«
Hier endete der Traum. Von ihren fünf Opfern kehrte nur der abgetriebene Fötus in den Nächten zurück. Die anderen – der mißgelaunte Priester, die kleine verrotzte Heulsuse, der häßliche Wagenlenker bei Hostya, der eitle Troubadour an der Straßenkreuzung – warteten auf den Tag, und wenn die Erinnerung an sie wiederkam, stand Tez schreiend in den Schneewehen.
Am Legendenabend suchte sie der Traum zweimal heim, dann erwachte sie in der Morgensonne, die für den Timlath ungewöhnlich warm herabschien und ihr Licht über den Höhlenboden ergoß. Ein seltsamer Appetit regte sich in ihr. Es war kein Appetit auf Essen – nicht ganz. Letzte Nacht hatte sie das Fleisch eines verirrten Lipocas verschlungen. Dieser Appetit schien namenlos zu sein, hing irgendwie zusammen – mit einer Stadt? Ja! Sie hungerte nach Cuz. Auch im Winter beherbergte Cuz tausend Menschenleben.
Draußen vor der Höhle, den Rücken unter ihrem Bündel gebeugt, nahm sie ihre Wanderschaft wieder auf. Sie atmete die schwachen Gase ein, die in dieser Höhe als Atmosphäre galten, marschierte los und versank bis zur Taille in den weichen Überresten des nächtlichen Blizzards. Sie fluchte und überlegte: Wenn ich Glück habe, werde ich Cuz vor Sonnenuntergang erreichen.
Als der Morgen in den Mittag überging, wuchs Iztacs Kraft. Die Schneewehen zerschmolzen zu funkelnden, rauschenden Bächen, die Bäume, dicht mit Eiszapfen behangen, tropften wie unter einem Dauerregen. Noch eine Stunde, dachte Tez, und ich werde vielleicht Schlamm sehen.
An diesem Tag sah sie keinen Schlamm, nur die monotone Majestät des vereisten Waldes. Die Zweige sahen aus, als wären sie von Glas umgeben. Immer wieder grübelte sie über die Absurdität des Wetters nach. Wenn Kristallflocken von oben herabfallen und den gesamten Handel der Menschen lahmlegen können, warum spuckt das Erdreich dann keine Steine in die Luft? Plötzlich erkannte sie, daß ihr wissenschaftlicher Verstand nicht mehr funktionierte.
Die
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