Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
elektronisches Wimmern war zu hören, von derselben Art wie jenes Geräusch, das Kappies Tod begleitet hatte. »Verdammt!«
    Das Männchen richtete sich wütend auf, mit angespannten Sinnen, riß seinen Speer aus der Schärpe des Mädchens, schwang ihn hoch, stürmte die restlichen Stufen herab. Mit der anderen Hand hob es eine Axt, ein kegelförmiges Mordinstrument aus Granit, das er nun zuerst einsetzte. Es ließ die Waffe über seinem Kopf kreisen dann schleuderte es sie mit einem ohrenbetäubenden Kreischen von sich. Burne spürte einen Luftzug über seine Wange streichen. Die Axt wühlte sich in den Sand, einen Meter von Francis entfernt, der mit wild flackernden Augen an seinem Rucksack lehnte.
    Das Mädchen stieg die Treppe hinauf und gesellte sich zu seinen blutbesudelten Bruder. Zamanta rannte zu den beiden Kindern preßte sie zitternd an sich.
    Das Monstrum schwang den Speer nach hinten, zielte auf Burne Stirn. Die Blicke des Nerdenbewohners und des Neurovoren trafen sich, hielten einander fest, in abgrundtiefem Haß. Burnes Gegner hatte gräßliche Nasenlöcher, tief und weit auseinanderklaffend wie Einschußlöcher. Dicht darunter entblößte ein stinkender Mund zerbrochene Zähne, einen blutroten Gaumen voll üppig fließenden Speichel und eine Zunge mit gezackten Rändern, die mehr einer Säge glich.
    Burne warf sich auf den schwammigen Boden. Die Spitze des Speers flog flüsternd an seinem Nacken vorbei, der Schaft prallte von seiner Schulter ab. Der Speer flog weiter, mit verminderter Geschwindigkeit. Francis sah ihn kommen, konnte ihm jedoch nicht ausweichen.
    Ein scharfes Nußknackergeräusch verriet ihm, daß der Speer seine Hirnschale getroffen – und durchdrungen hatte. Der Schmerz setzte sofort ein, war aber nicht extrem. Unerträgliche Angst preßte sein Herz zusammen.
    Er sank vornüber, und der Speer löste sich aus seiner Stirn. Etwas Feuchtes strömte an seinen Schläfen hinab. Als er über die Sandfläche hinwegblickte, sah er, daß der Neurovore nach Süden floh, dorthin, wo der Wald am dichtesten war.
    Und dann erlosch die Sonne.
    Eine desorganisierte Galaxis. Ein pochender Schmerz. Langsam ordneten sich die Lichtpunkte, fügten sich zu einem Gesicht zusammen. Francis blinzelte zweimal. Das Gesicht war männlichen Geschlechts, menschlich, nicht neurovorisch. Seine Züge waren zerfurcht und zerklüftet wie eine Kraterlandschaft.
    »Willkommen im Chimec-Hospital«, grüßte das Gesicht. Sein Eigentümer neigte sich über Francis wie ein Wintermantel, schützend und abgetragen. »Ich bin Tixo Mool und für Ihren Gesundheitszustand verantwortlich.«
    »Chimec?« stöhnte Francis. »Ich dachte, ich wäre tot!« Irgend jemand hatte Sprengstoffball mit seinem Kopf gespielt. »Nein, es riecht anders. Der Tod müßte nach Formaldehyd riechen. Und ich dürfte keinen Hunger haben. Ich aber bin hungrig.«
    »Das will ich auch hoffen. Sie waren zwei Tage bewußtlos.«
    Francis hustete und drehte sich auf die Seite, frisches Leinen strich lautlos über seine Haut. Er starrte durch ein offenes Fenster in labyrinthische Gärten. Eine muntere Brise wehte über blumengesäumte Pfade hinweg, umwirbelte Marmorbänke, auf denen Rekonvaleszenten saßen. Hier und dort flatterten strahlend weiße Armschlingen wie Kapitulationsflaggen.
    »Luther hat sein Gehirn verloren, nicht wahr?« fragte Francis. »Die Neurovoren haben es ihm weggenommen.«
    Mool biß sich auf die Lippen und murmelte vor sich hin. Er reichte Francis einen Becher, der mit einer heißen, stark riechenden Flüssigkeit gefüllt war. »Trinken Sie das?«
    »Ist das eine Suppe?«
    »Cuiclo-Tee. Trinken Sie den Becher leer – bis auf einen Tropfen, der nicht größer ist als eine Träne.«
    »Wieviel?«
    »Wir lassen immer etwas übrig, das soviel wert ist wie eine Träne.« Mools Stimme nahm einen deklamatorischen Ton an, als würde er aus einem Buch zitieren. »Man darf niemals die Tränen der Eltern vergessen, die der Krieg beraubt hat.«
    Vertrauensvoll ergriff Francis den Becher und trank. Der Tee schmeckte säuerlich und nach Kalk und grauenhaft.
    »Man muß sich daran gewöhnen«, meinte Mool, um Francis’ Grimasse zu beantworten.
    »Ich hoffe, daß ich mich niemals daran gewöhnen werde.«
    »Sie trinken ihn nicht zum Vergnügen, sondern um Ihre Schmerzen zu lindern.«
    »Burnes Gehirn wurde nicht gefressen«, sagte Francis ausdruckslos, als würde er ganz alltägliche Worte aussprechen.
    »Nein.«
    »Wo ist er?«
    »Irgendwo in den

Weitere Kostenlose Bücher