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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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kicherte.
    Wenn der Korridor einer kleinen Kunstgalerie ähnelte, so glich der Operationssaal einem riesigen Trichter. Die Krankenpfleger rollten Francis auf eine große runde Fläche. In ihrer Mitte erhob sich ein gepolsterter Tisch, auf den er nun mit aller Sorgfalt transferiert wurde. Daneben stand ein Wagen, der von chirurgischen Instrumenten strotzte. Auf den kreisförmigen Bänken ringsum, diesich wie in einer Arena nach oben zogen, saß etwa ein Dutzend Studenten. Sie beugten sich erwartungsvoll vor, und ihre glatte, erstaunliche Jugendlichkeit gab Francis das Gefühl, einer aussterbenden Rasse anzugehören. Von ganz oben drang Sonnenlicht durcheine Glasdecke und fiel in die Mündung des Trichters herab.
    Am Rande der runden Fläche brannten, in Abständen von jeweils sechzig Grad, flackernde Bodenlampen-Kerzen, deren Dochte mit parfümiertem Öl getränkt waren. Zwischen den Lampen hingengroße, kompromißlos avantgardistische Ölgemälde. Ein Bild drehte sich nach vorn, und eine zierliche Frau kam herein, begleitet von zwei Männern. Der eine war ein Riese, der andere ein Gnom. DieKrankenpfleger begriffen, worum es jetzt ging, und zogen sich zurück.
     
    Tez Yon betrat den Operationssaal mit heftigem Widerstreben, voller Haß gegen die Aufgabe, die sie nun erfüllen mußte. Wenn ich Erfolg habe, überlegte sie, so wird Mool den Ruhmesglanz seinem »famosen chirurgischen Team« zuerkennen, womit er selbst gemeint ist. Aber wenn der Nerdenbewohner auf diesem Tisch stirbt, wird man mir die ganze Last der Verantwortung aufbürden. Alle werden verstört umherirren und große Kullertränen vergießen -Krokodilstränen –, weil niemand will, daß er am Leben bleibt.
    Der Anblick des hilflosen Patienten beendete ihren Anfall vonSelbstmitleid. Sie bemerkte, daß ihre Assistenz-Schwestern bereits damit begonnen hatten, die Hirnschale mit Kusk-Farbe zu markieren, den Schädel mit dem Lokalnarkotikum namens Lethe-Brei zu bestreichen und seine Arme mit den Ranken der Kardio-Rebe zu umwinden, jener wunderbaren Pflanze, deren Farbveränderungen vor gefährlichen Blutdruckschwankungen warnten. Sie erreichte den Tisch, ergriff ihr Skalpell und hob es in die Höhe wie einen Speer. Während sie zu ihrem Auditorium sprach, wies sie mit dem Instrument in die Richtung von Francis’ Gehirn.
    »Wie Sie alle erfahren haben, kommt Dr. Lostwax von Iztac Vier, dem ursprünglichen Ziel der Eden Zwei und unserer Eden Drei. Er nennt seinen Planeten Nerde und ist Entomologe. In unseren Augen ist er kein extraterrestrisches Geschöpf, sondern ein Mensch, kein Nerdenbewohner, sondern ein Quetzalianer, und man hat mir mitgeteilt, daß es nach Gouverneur Nazras und Vaxcala Coatls Willen auch so bleiben soll. Ich weiß, es ist unglaublich, daß ein Gouverneur und eine Hohepriesterin in irgendeinem Punkt übereinstimmen. Aber vorerst jedenfalls müssen wir die Identität dieses Mannes geheimhalten…« Gelächter drang von den Rängen herunter. »Wenn Sie irgendwelche Fragen haben…«
    Eine Hand erhob sich schüchtern. »Darf ich den Patienten etwas fragen?« Die Hand gehörte zu einem jungen Mann mit traurigen Augen.
    Als Tez näher trat, sah Francis ein Gesicht, das man, seinem Volumen nach, als niedlich bezeichnen konnte. Aber der Ausdruck »niedlich« paßte nicht zu den vollen Lippen, den genialen Augen und dem üppigen terrakottafarbenen Haar. Mool hatte erwähnt, daß Tez kompetent und sehr jung sei. Aber er hatte vergessen, darauf hinzuweisen, daß sich Francis auf den ersten Blick in sie verlieben könnte.
    »Würden Sie eine Frage beantworten?« erkundigte sich Tez.
    »Ja«, erwiderte Francis und schwelgte in ihrer heiseren Stimme. In diesem Moment wäre er auf alle ihre Wünsche eingegangen – wenn sie nicht gerade verlangt hätte, er solle Selbstmord begehen.
    »Praktizieren Sie die Sakramente von Zolmec?« wollte der Mann mit den traurigen Augen wissen.
    »Die Mehrzahl meiner Mitbürger ist nicht religiös«, antwortete Francis.
    »Wer hindert Sie daran, einander weh zu tun?«
    Francis zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Die Nerdenbewohner tun einander ständig weh.«
    »Das dachte ich mir«, stellte der Mann mit einer Selbstgefälligkeit fest, über die sich Francis aus irgendeinem Grund nicht im geringsten ärgerte. Tez ging um den Tisch herum und blickte in alle Richtungen, wie eine Schauspielerin, die feststellen will, ob ihr Publikum vollzählig erschienen ist. Dann blieb sie direkt hinter Francis’ kahlem Schädel

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