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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Evolution nicht dem natürlichen Ausleseprinzip überließen. Sie agierten, und zwar blitzschnell, mit rattenhafter Schläue und affenartigen Bewegungen. Springt! sagten ihre primitiven Instinkte und ihre Sprungfedernmuskeln. Springt auf die Mauer!
    Die Neurovoren schossen himmelwärts und verschwanden hinter der Oberschwelle.
    Francis und Burne taumelten durch den Torbogen und brachen zusammen, zwei erschöpfte Nervenbündel. Die Brücke stand nun senkrecht und sperrte das Wüstenland und sein Grauen aus. Burne schnallte seinen Rucksack ab und betrachtete ihn stumpfsinnig. Er hatte ganz vergessen, ihn in den Burggraben zu werfen.
    Ihr Retter, der Türsteher, kam schüchtern näher. Er war ein gebrechlicher Mann in mittleren Jahren, mit dichtem grauem Haar und einem Gesicht, das teilweise abgeflacht aussah. Die Brücke und das Fallgitter hatte er nur mit der Hilfe eines komplizierten Arrangements von Winden, Flaschenzügen, Gewichten und Seilen hochziehen können.
    »Gepriesen sei Iztac«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich dachte schon, es wäre um Sie geschehen.«
    »Lassen Sie mich wenigstens versuchen, Ihnen zu danken«, keuchte Francis, den Kopf auf seinen Rucksack gelegt.
    »Sie haben Ihren Freund verloren.«
    »Ja, das ist nun mal passiert«, würgte Burne hervor und richtete sich langsam auf, streifte mit einer Hand den Sand von seiner Jacke und packte mit der anderen sein Fermentgewehr.
    »Wir haben Ihnen unser Leben zu verdanken«, murmelte Francis und wischte sich die Tränen von den Wangen. Er mußte unablässig daran denken, daß Luther nun niemals herausfinden würde, was durch den Burggraben floß.
    »Ich habe nur getan, was mir die Moral gebietet. Immerhin sind Sie zivilisiert.«
    Francis glaubte eine Frage aus der Stimme des Türstehers herauszuhören. »Ja«, krächzte er, »wir sind zivilisiert.« Die Erleichterung in den Augen des Türstehers hatte er erst vor wenigen Minuten auf einem anderen Gesicht gesehen, auf dem Gesicht des Mannes, der sich Zamanta nannte.
    »Verzeihen Sie meine Frömmigkeit«, bat der Türsteher, »aber in Quetzalia versuchen wir…« Sein Blick wanderte ziellos zur Mauer. »Nein!«
    Nie zuvor hatte Francis ein solches »Nein!« gehört – dieses »Nein!«, das über allen persönlichen Schmerz hinausging, sogar über den Schmerz, den ihm Luthers Tod zugefügt hatte. Es war ein »Nein!«, das besagte, daß die Welt nun allen Lichts und aller Hoffnung beraubt war. Er blickte hoch, erkannte eine Steintreppe, die auf die Mauer hinaufführte. Sein umherirrender Blick heftete sich schließlich auf die beiden Neurovoren, die nach oben gesprungen waren und nun die beiden Kinder verfolgten.
    Zamantas Tochter blieb nur ein einziger Fluchtweg – die Treppe, und so rannte sie darauf zu, den heißen Atem eines Neurovoren im Nacken. Sie war bereits zehn Stufen herabgesprungen, als ihr Verfolger, das Männchen, seinen Speer hinabstieß, ihre Schärpe aufspießte und sie wie einen Fisch an der Angel hochzerrte. Und dann zog er sie zu sich heran, um sie zu töten.
    Oben auf der Mauer griff das blutrünstige Weibchen Zamantas Sohn an, schwang den Speer, hob die Axt hoch empor. Der Junge schrie nicht einmal auf.
    Francis lag da und starrte ungläubig hinauf. Das Unglaubliche war nicht die Grausamkeit der Neurovoren, nicht einmal die Tapferkeit ihrer Beute. Das Unglaubliche war, daß Zamanta keinen Finger rührte, um seinen Kindern zu helfen. Er stand einfach nur da, bleich vor Entsetzen, mit tränennassen Augen – ein Mann, der zusah, wie sein Haus niederbrannte.
    Ein Geräusch klang auf, ein Zischen, als würde rohes Fleisch auf heißes Metall prallen. Eine hellgoldene Perle durchteilte die Luft und fand mühelos ihr Ziel. Das Weibchen taumelte nach hinten, ein purpurnes Loch breitete sich in ihrem Hals aus. Klirrend fielen ihre Waffen auf die Mauersteine.
    Sekunden später zerbarst ihr Hals wie eine reife Tomate, die in der Sonne gelegen hatte.
    Blut regnete auf den Jungen herab. Brüllend vor Schmerzen stürzte das Monstrum rücklings in den Fluß, und als die Leiche in die Flüssigkeit eintauchte, klang das Klatschen dumpf und endgültig.
    Der Türsteher erschauerte und staunte. »Sie sagten, Sie seien zivilisiert!« schrie er. »Ich traue meinen Augen nicht!«
    »Bleiben Sie da, dann werden Sie es noch einmal sehen«, erwiderte Burne gelassen. Er senkte das Fermentgewehr nicht, richtete es auf den zweiten Neurovoren, das Männchen. Eiskalt drückte er ab – vergebens. Ein dünnes

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