Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
Mama«, jammerte Gisela, ohne aus ihrem Alptraum zu erwachen.
»Es wird gut! Es wird alles gut!«, wiederholte Nizhoni in allen Sprachen, die sie kannte, um die Gebärende zu beruhigen. Sie hatte selbst eine schwere Geburt durchlebt und wusste, wie ihre Freundin leiden musste. Gleichzeitig wuchs ihre Sorge um Josef, der sich schon viel zu lange draußen herumtrieb. Doch sie konnte Gisela nicht allein lassen, um nach ihm zu sehen.
In ihrer Verzweiflung flehte Nizhoni die Geister ihres Volkes an, ihnen beizustehen, obwohl Gisela keine Diné war. Doch es schien, als wären die Geister ihr gewogen, denn kurz darauf kam das Köpfchen des Kindes zum Vorschein, und keine zehn Atemzüge später hielt Nizhoni das Neugeborene in den Händen.
Es war ein Junge, etwas klein, aber dem Anschein nach gesund. Während Nizhoni ihn abnabelte, öffnete Gisela die Augen und erkannte ihre Freundin. Der Wahn, der sie seit Tagen gequält hatte, schien gewichen.
Sie sah das Kind an und lächelte. »Jetzt habe ich meine letzte Schuld getilgt.«
»Was redest du?«, fragte Nizhoni verwundert.
»Ich habe den Sohn geboren, den ich Walther noch habe schenken wollen!« Giselas Stimme wurde schwächer, und sie sank haltlos zurück, kaum dass sie das letzte Wort ausgesprochen hatte.
»Was ist mit dir?« Nizhoni legte das Kind beiseite und beugte sich über ihre Freundin. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie begriff, dass eine Tote vor ihr lag.
»Warum tust du das?«, stöhnte sie verzweifelt auf und sah dann das Neugeborene an. Ohne Mutter konnte es nicht überleben. Der Gedanke, beide begraben zu müssen, entsetzte Nizhoni, und sie sank weinend über Gisela zusammen.
Nicht lange, da raffte sie sich wieder auf. Über all dem Leid durfte sie ihre Verantwortung für Josef nicht vergessen. Vorher aber wickelte sie das Kleine in eine Decke und legte es neben die Mutter. Danach nahm sie eine der beiden Flinten, verließ die Hütte und rief nach dem Jungen.
Es kam keine Antwort. Nizhoni erinnerte sich, ihn zur Stute geschickt zu haben, und suchte diese. Bis sie die Schecke fand, musste sie ein ganzes Stück laufen. Doch von Josef war weit und breit nichts zu sehen. Nizhoni durchlief es heiß und kalt. Wenn dem Jungen etwas geschehen war, durfte sie Fahles Haar nicht mehr unter die Augen treten. Sie rief erneut und suchte verzweifelt nach Josefs Spuren.
Die Sorge brachte sie schon halb um, als sie endlich den Abdruck eines Kinderfußes in einem Bachbett entdeckte. Aus Angst, Josef könnte hineingefallen und ertrunken sein, lief sie bachabwärts. Schließlich zog das Gewässer eine Schleife um einen Hügel und floss an den niedergebrannten Gebäuden einer Farm vorbei. Verkohlte Balken ragten in den Himmel und zeugten davon, dass die Menschen, die hier gesiedelt hatten, dem großen Flüchtlingszug nach Osten gefolgt waren.
Dennoch näherte Nizhoni sich den Ruinen mit aller Vorsicht und atmete auf, als sie erneut die Fußstapfen des Kindes entdeckte. Der Junge musste mehrere Meilen gelaufen sein und war zumindest hier vorbeigekommen. Den Grund dafür kannte Nizhoni nicht, aber sie nahm sich vor, ihm ins Gewissen zu reden, damit er sie nicht noch einmal so erschreckte.
Ein Laut, so ähnlich wie das Blöken eines Schafes, ließ sie verwundert aufhorchen. Kurz darauf erklang er wieder, nur deutlich meckernder. Nun vergaß Nizhoni alle Vorsicht und rannte auf die Farmgebäude zu. Sie betrat den halb zerfallenen Schuppen. Auf einer Schütte Stroh fand sie Josef, der gerade an einem Maiskolben knabberte. Neben dem Jungen stand eine gescheckte Ziege und fraß ebenfalls einen Maiskolben.
»Josef! Den Geistern sei Dank!«, stieß Nizhoni aus.
Der Junge drehte sich fröhlich zu ihr um. »Du hast gesagt, ich soll die Schecke suchen. Schau, das hier ist auch eine Schecke, und die hat mich hierhergeführt. Es gibt noch eine Menge Maiskolben. Allerdings solltest du sie kochen. So sind sie mir zu hart!«
Erleichtert nahm Nizhoni den Jungen in die Arme und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihr aufsteigen wollten. Das Schwerste für sie würde sein, Josef zu erklären, dass seine Mutter zu den Geistern ihrer Ahnen gegangen war. Dann suchte ihr Blick das volle Euter der Ziege. Kuhmilch war nicht gut für ein Kind wie Josefs kleinen Bruder. Konnte die Milch der Ziege die Rettung sein? Sie suchte einen Strick, um das Tier festzubinden, damit es nicht weglaufen konnte. Es musste seinem früheren Besitzer abhandengekommen sein und hatte sich nun Josef
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