Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
trotz der frühen Tageszeit sofort weg. Im Traum fand sie sich in einem weiten Land mit hohen Schneewehen wieder und spürte die entsetzliche Kälte, die ihr schier das Herz erstarren ließ. Um sie herum lagen tote Pferde und Maultiere, und in ihren Ohren gellten die schrillen Schreie der Kosaken, die das Regiment, mit dem ihre Eltern und sie zogen, immer wieder attackierten.
Zwar spürte Gisela, dass etwas nicht stimmen konnte, doch sie war hilflos in diesem Bild des Grauens gefangen.
11.
W alther betrat noch vor Thierry den Schankraum. Ein kurzer Rundblick zeigte ihm, dass Stephen Austin bereits an einem Tisch saß. Um ihn herum hatten sich etliche Männer versammelt. Farmer in derber Kleidung waren ebenso darunter wie Bürger in gebügelten Hosen und langen Röcken, wie auch Austin einen trug.
Nun sah dieser auf und lächelte. »Sie sind schneller erschienen, als ich erwartet habe. Was wollen Sie trinken? Whisky oder Tequila?«
»Bier wäre mir lieber«, antwortete Walther.
»Ich vergaß, Sie sind ja Deutscher! Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich möchte Ihnen erklären, weshalb ich in die Ciudad de Mexico reisen will, um mit der Regierung zu sprechen.«
»Die Reise können Sie sich sparen«, warf ein junger Mann in einem blauen Rock ein, der seinem schmalen, blassen Gesicht und seinen weichen Händen zufolge nie als Farmer gearbeitet hatte. »Wir Texaner haben es satt, um unser gutes Recht betteln zu müssen! Ich sage euch, wir jagen die mexikanischen Behörden in Texas zum Teufel und schließen uns den Vereinigten Staaten an. Es leben jetzt schon viermal so viele Amerikaner im Land als Mexikaner, und es werden täglich mehr. Wir haben das Recht, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.«
»Ich stimme Mister Travis zu!«, rief ein Farmer.
Austin hob die Hand. »Seid vernünftig, Leute! Dieses Land gehört zur Republik Mexiko und ist deren Gesetzen unterworfen. Jetzt zu fordern, Texas solle sich den Vereinigten Staaten anschließen, würde Mexiko herausfordern und dafür sorgen, dass die Einwanderung von Amerikanern ganz untersagt wird.«
»Die Regierung von Mexiko hat nicht die Möglichkeiten, das zu verhindern. Unsere Leute werden kommen, ob mit oder ohne den Segen irgendeines Spanisch brabbelnden Präsidenten in Mexico City!« Travis’ Stimme triefte vor Spott, und das entfachte Austins Zorn.
»Mister Travis, darf ich Sie darauf hinweisen, dass Sie kein Bürger der Republik Mexiko und kein Einwohner von Texas sind? Dennoch wollen Sie Unruhe unter denen stiften, denen Mexiko Land und damit die Möglichkeit geboten hat, hier ein neues Leben zu beginnen.«
Auch Walther gefielen Travis’ Hetztiraden nicht. »Solange die Regierung von Mexiko die Zusagen einhält, die uns gemacht wurden, haben wir keinen Grund, uns gegen sie zu wenden«, erklärte er scharf. »Wir wollen hier in Ruhe unseren Mais pflanzen, und zumindest mir ist es dabei gleichgültig, ob Mexiko die weitere Einwanderung von Nordamerikanern erlaubt oder nicht.«
»Der Mann hat wohl mit Andreas Belcher gesprochen«, warf einer der Männer lachend ein. »Aber er hat recht! Wir sollten nichts übers Knie brechen. Mister Austin wird den Männern in Mexico City schon klarmachen, was wir wollen.«
»Und was ist mit unserer Sprache, unserer Kultur, unserer Religion?«, fuhr Travis auf.
»Wer englisch sprechen, amerikanisch leben und protestantisch bleiben will, kann dies in Louisiana und Mississippi tun«, wies Austin ihn zurecht. »Die mexikanische Regierung hat Bedingungen für die Siedler aufgestellt, und diese sind zu erfüllen.«
»Ich will kein spanisch plappernder, katholischer Narr werden!«
Trotz dieses Ausbruchs befand Travis sich auf dem Rückzug. Die Männer vertrauten Austin und darauf, dass er ihre Belange in der Hauptstadt vertreten würde. Nur ein paar, die ebenso wie Travis auf der Durchreise waren, forderten ebenfalls den Anschluss an die Vereinigten Staaten.
»Wissen Sie überhaupt, was Sie da sagen?«, fragte Austin sie kopfschüttelnd. »Sie fordern die Rebellion gegen Mexiko und behaupten, die Vereinigten Staaten würden Truppen schicken, um uns zu unterstützen. Doch wenn diese Truppen ausbleiben, wird die mexikanische Armee uns alle über die Grenze treiben. Mischen sich die Vereinigten Staaten jedoch ein, gibt es Krieg, und wir Siedler sind dann diejenigen, die am meisten darunter zu leiden haben.«
Travis wollte noch etwas entgegnen, spürte aber, dass er gegen die meisten der Anwesenden stand, und
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