Der weite Himmel: Roman (German Edition)
doch wo sollte sie hingehen, was sollte sie tun, wenn man sie aufforderte, die Ranch zu verlassen?
In den Osten konnte sie vorerst nicht zurückkehren. Unsicher betastete sie den sich grüngelb verfärbenden Bluterguß, den sie durch Make-up und eine Sonnenbrille zu verdecken suchte. Jesse hatte sie gefunden. Sie war so vorsichtig gewesen, und doch hatte er sie gefunden, und die gerichtliche Verfügung hatte ihn nicht davon abgehalten, seine Fäuste an ihr zu erproben. Nichts konnte ihn davon abhalten. Die Scheidung hatte ihn nicht zur Vernunft gebracht, und auch das dauernde Umziehen und Weglaufen hatte nichts gefruchtet.
Aber vielleicht konnte sie hier, Tausende von Meilen von ihm entfernt, in einem so riesigen Land wie diesem, endlich wieder von vorne anfangen. Ohne die ständige Furcht im Nacken.
Der Brief des Anwalts, in dem ihr der Tod Jack Mercys mitgeteilt und sie aufgefordert wurde, nach Montana zu reisen, war ihr wie ein Geschenk des Himmels erschienen. Obwohl alle Kosten schon im voraus bezahlt worden waren, hatte sich Lily den Aufschlag für das Ticket erster Klasse auszahlen lassen und unter drei verschiedenen Namen Flüge kreuz und quer durch die Staaten gebucht. Wie gerne würde sie daran glauben, daß Jesse Cooke sie hier nicht finden würde. Sie wollte nicht mehr ständig auf der Flucht sein, ständig in Angst leben.
Vielleicht konnte sie ja nach Billings oder Helena ziehen und sich dort einen Job suchen. Irgendeinen Job. Schließlich verfügte sie über einige Fertigkeiten. Sie war ausgebildete Lehrerin und konnte mit einem Computer umgehen. Vielleicht gelang es ihr, ein kleines Apartment zu finden, und wenn es für den Anfang auch nur ein einzelnes Zimmer war. Aber sie würde wieder auf eigenen Füßen stehen.
Hier könnte sie leben, dachte sie, während sie über die endlose, furchteinflößende, großartige Ebene blickte. Vielleicht gehörte sie sogar hierher.
Als eine Hand ihren Arm berührte, fuhr sie zusammen und unterdrückte einen entsetzten Aufschrei. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Es war nicht Jesse. Der Mann neben ihr war dunkelhaarig, Jesse hingegen blond. Dieser Mann hatte eine bronzefarbene Haut, und das Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Sanfte, sehr dunkle Augen leuchteten in einem Gesicht von herber männlicher Schönheit.
Aber auch Jesse war ein ausgesprochen attraktiver Mann. Lily wußte nur zu gut, welche Grausamkeit sich hinter einer schönen Fassade verbergen konnte.
»Es tut mir leid.« Adams Stimme klang so beschwichtigend, als wolle er einen verschreckten Welpen oder ein krankes Fohlen beruhigen. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich
habe Ihnen nur etwas Eistee gebracht.« Er nahm ihre Hand, bemerkte, wie sie zitterte, und legte ihre Finger um das Glas. »Heute ist ein viel zu warmer, trockener Tag.«
»Danke. Ich habe Sie gar nicht kommen hören.« Unwillkürlich trat Lily einen Schritt zur Seite, um etwas Abstand zwischen sich und ihm zu schaffen. Eine Fluchtmöglichkeit. »Ich habe mich nur … umgeschaut. Es ist wunderschön hier.«
»Ja, das ist es.«
Sie nippte an ihrem Tee, kühlte ihre brennende Kehle und zwang sich, ruhig und höflich zu bleiben. Die Leute stellten weniger Fragen, wenn man sich gelassen gab.
»Leben Sie hier in der Nähe?«
»Sogar sehr nah.« Lächelnd trat er an das Geländer und deutete gen Osten. Ihm gefiel ihre Stimme und der gedehnte, warme Südstaatenakzent. »Dort drüben, das kleine weiße Haus auf der anderen Seite des Pferdestalles.«
»Ja, ich habe es gesehen. Sie haben blaue Fensterläden und einen Garten, und auf dem Hof schlief ein kleiner schwarzer Hund.« Lily erinnerte sich, wie gemütlich das Häuschen auf sie gewirkt hatte, wieviel freundlicher und einladender als das große Haus.
»Das ist Beans«, wieder lächelte Adam sie an, »der Hund. Er hat eine Vorliebe für gebackene Bohnen. Ich bin Adam Wolfchild, Willas Bruder.«
»Oh.« Sie musterte die Hand, die er ihr entgegenstreckte, einen Augenblick lang, dann befahl sie sich energisch, sie zu ergreifen. Jetzt erkannte sie auch die Ähnlichkeiten, die ausgeprägten Wangenknochen, die Augen. »Ich wußte gar nicht, daß sie einen … Dann sind wir also …«
»Nein.« Ihre Hand schien ihm ungemein zerbrechlich zu sein, und er gab sie sanft frei. »Sie beide haben denselben Vater. Willa und ich hatten dieselbe Mutter.«
»Ich verstehe.« Scham stieg in ihr hoch, als ihr bewußt wurde, daß sie kaum jemals einen Gedanken an den Mann verschwendet hatte,
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