Der weite Himmel: Roman (German Edition)
wandte sich von ihm ab und sammelte Kraft, um die Beileidsbezeugungen entgegenzunehmen.
Gab es in einer Familie einen Todesfall, so brachten die Nachbarn Lebensmittel und Kuchen vorbei. Diese tiefverwurzelte Tradition ließ sich nicht unterbinden. Auch hatte Willa Bess nicht daran hindern können, für drei Tage im voraus zu kochen, um für das gerüstet zu sein, was die Haushälterin ein Trauermahl nannte. Und das war in Willas Augen eine lächerliche Farce. Nicht die Trauer hatte die Leute zu ihnen getrieben, sondern schiere Neugier. Viele von ihnen, die jetzt im Haupthaus versammelt waren, waren nicht zum ersten Mal da. Jack Mercys Tod verschaffte ihnen wiederum Einlaß, und sie nutzten diese Gelegenheit nach Kräften aus.
Das Haupthaus war eine echte Sehenswürdigkeit, ganz im Stile Jack Mercys. Wo vor mehr als hundert Jahren eine Blockhütte mit Lehmboden gestanden hatte, erhob sich nun
ein mehrstöckiges weitläufiges Gebäude aus Stein, Holz und Glas. Teppiche aus aller Herren Länder bedeckten die schimmernden Fußböden aus Kiefernholz und glänzenden Fliesen. Jack Mercy hatte mit Begeisterung die unterschiedlichsten Dinge gesammelt. Nachdem er die Mercy Ranch übernommen hatte, verbrachte er fünf Jahre damit, das, was einst ein gemütliches Heim gewesen war, in seinen ganz persönlichen Palast zu verwandeln.
Ist man reich, dann muß man auch einen entsprechenden Lebensstandard pflegen, so lautete seine ständige Redensart. Und er richtete sich auch danach. Er hatte Gemälde und Skulpturen gesammelt und weitere Räume anbauen lassen, um seine Kunstgegenstände auch ausstellen zu können. Die Eingangshalle war mit saphirblauen und rubinroten Fliesen ausgelegt worden, in denen sich das Emblem der Mercy Ranch ständig wiederholte. Die Treppe zum zweiten Stock bestand aus poliertem, wie Glas schimmerndem Eichenholz, den Geländerpfosten bildete ein geschnitzter Wolf, der mitten im Geheul erstarrt zu sein schien.
Hier hatte sich ein Großteil der Gäste versammelt. Viele bestaunten die Figur mit großen Augen, wobei sie reichlich gefüllte Teller in den Händen balancierten. Andere drängelten sich in dem riesigen Wohnzimmer, wo eine große halbkreisförmige Couchgarnitur aus weichem cremefarbenem Leder stand. Über dem aus glattem Flußgestein gefertigten Kamin, der eine ganze Wand einnahm, hing ein lebensgroßes Porträt von Jack Mercy auf einem schwarzen Hengst. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und in einer Hand hielt er seinen Ochsenziemer. Vielen kam es so vor, als würden diese harten blauen Augen sie dafür verurteilen, daß sie in seinem Haus saßen und mit seinem Whiskey auf seinen Tod anstießen.
Für Lily Mercy, die zweite Tochter von Jack Mercy, die er kurz nach ihrer Geburt verstoßen hatte, bedeutete diese Versammlung die reinste Qual. Das Haus, die vielen Menschen, der Lärm. Das Zimmer, das sie seit ihrer Ankunft bewohnte, war so hübsch. Und so ruhig, dachte sie nun und rückte unauffällig näher an das Geländer der Seitenveranda heran.
Das reizende Bett, der goldene Holzfußboden, die Seidentapete.
Die Einsamkeit.
Danach sehnte sie sich mit jeder Faser ihres Herzens, als sie zu den Bergen hinüberschaute. Wie beeindruckend, so mächtig, so rauh. Nicht zu vergleichen mit den unbedeutenden kleinen Hügeln ihrer Heimat Virginia. Und dann der endlose tiefblaue Himmel, der sich über die riesigen Landflächen erstreckte. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, daß eine solche Landschaft überhaupt existierte. Sie war entzückt von der Weite und dem Wind, der fast unaufhörlich wehte. Und dann diese Farben! Gold- und Rosttöne, Scharlachrot und Bronze. Sowohl die Berge als auch die Täler waren in ein Meer von herbstlichen Farben getaucht.
Bereits jetzt schon liebte sie die kraftvolle Schönheit des Tales, in dem die Ranch lag. Von ihrem Fenster aus hatte sie an diesem Morgen Hochwild beobachtet, das an dem silbern im Morgenlicht glänzenden Fluß trank. Sie hatte Pferdegewieher gehört, Männerstimmen, das Krähen eines Hahnes und einen Schrei, bei dem es sich eventuell – hoffentlich – um den eines Adlers gehandelt haben könnte.
Sie fragte sich, ob sie wohl – sollte sie tatsächlich den Mut aufbringen, durch die Wälder des Vorgebirges zu wandern – die Elche, Wapitis und Füchse zu Gesicht bekommen würde, über die sie auf ihrem Flug nach Westen so begierig gelesen hatte.
Sie hoffte, daß man ihr gestatten würde, noch einen weiteren Tag hierzubleiben –
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