Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition)
Sie beugte sich leicht nach vorn, das pechschwarze Haar fiel ihr ins Gesicht. Mit der Maus kam sie gut zurecht, sie hielt den Blick auf den Bildschirm geheftet. Die Mausklicks erfolgten in regelmäßigen Abständen, höchstens drei Sekunden auseinander. Fünfhundert Fragen, jeweils drei Sekunden, tausendfünfhundert Sekunden insgesamt. Fünfundzwanzig Minuten.
Als sie fertig war, sah sie zu mir auf und hielt die Hände hoch wie ein Kind, das zeigt, dass sie sauber sind. »Fertig«, sagte sie in einer Art Singsang. »Haben Sie sich die ganzen Fragen ausgedacht?«
»Die meisten«, antwortete ich.
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Sie sind schon ein komischer Kauz«, sagte sie. »Irre, irre komisch.«
»Was fanden Sie denn komisch?«, fragte ich, als ich das Notebook wieder an mich zog.
»Na ja … die Fragen über den Tod. Und über das Töten. Und die Tatsache, dass jede Frage zweimal gestellt wurde, nur halt andersrum. Wieso eigentlich?«
»Um zu überprüfen, ob Ihre Antworten übereinstimmen.« Das sagte ich zwar, aber es war nicht der einzige Grund. Die Zeit, die zwischen dem Erscheinen der Frage auf dem Monitor und dem Mausklick verstrich, war auch wichtig. Sie gibt Aufschlussdarüber, wie überlegt die Antwort ist oder wie viel Verwirrung sie ausgelöst hat. Und die Zeit, die zur Beantwortung der gleichen Frage in umgekehrter Reihenfolge benötigt wird, ist noch wichtiger. Das übernimmt das Computerprogramm, es vergleicht die Antworten und Pausen dazwischen mit Profilen von über tausend Fallgeschichten. Und dann bekomme ich die Informationen, die ich brauche, um die Zurechnungsfähigkeit zu beurteilen.
»Um sicherzugehen, dass ich nicht lüge?«, fragte sie.
»So was in der Art«, sagte ich. »Aber wenn Sie nichts Unrechtes getan haben, Terry, dann haben Sie nichts zu befürchten.«
»Sind Sie fertig, Sir?«, fragte mich die Polizeibeamtin, und als ich bejahte, zog sie die Arme des Mädchens auf den Rücken und legte sie wieder in Handschellen.
»Muss sie die ganze Zeit Handschellen tragen?«, fragte ich.
»Das ist Vorschrift«, erwiderte die Polizistin.
Ich speicherte Terrys Antworten in einer neuen Falldatei und ließ sie durch ein Sortierprogramm laufen. Eine Minute lang leuchtete »IN ARBEIT« auf, dann das Wort »ENDE«. Es dauerte nur wenige Minuten, aber das Programm stand für mehr als zehn Jahre meines Lebens. Begonnen hatte ich mit der Forschung als Teil meines Postdoktoranden-Projekts, in dem ich eine computerisierte Version des Rorschach-Tests entwickeln wollte. Das verlief aber im Sand, und darum wechselte ich zu den leichter zu digitalisierenden Frage-und-Antwort-Bewertungssystemen, wie zum Beispiel
Cattells Fragebogen zu den sechzehn Persönlichkeitsfaktoren
und dem
GMA-Test
. In der Vergangenheit erforderte die Interpretation dieser Tests verdammtviel Erfahrung und die Ergebnisse hingen ebenso sehr vom Prüfer wie von der Testperson ab. Und genau da konnte das Beaverbrook-Programm punkten: Indem es dem Computer die Einstufung der Ergebnisse überließ, eliminierte es die persönlichen Schwächen des Auswerters. Ich habe ein paar Abhandlungen über die Möglichkeiten der Computerisierung verfasst und sie stießen auf reges Interesse. Es gelang mir, Gelder von ein paar gemeinnützigen Organisationen für psychisch Kranke locker zu machen, und ich stieg in die zweite Forschungsphase ein. Nach dem üblichen Verfahren wiederholte man die Tests oder Variationen davon bei verschiedenen Anlässen, verglich dann die Resultate und ließ sie durch eine Standardfehler-Messgleichung laufen. Ich dagegen versuchte mit einem einmaligen Bewertungssystem aufzuwarten, das wie ein
Lackmustest
wirkte, ein Soforturteil: zurechnungsfähig oder nicht. Schließlich entwickelte ich eine Variation der
Spearman-Brown-Formel
, die Ergebnisse des einen Tests nahm, effektiv durch zwei teilte und so behandelte, als würden sie aus zwei parallelen Versuchen stammen. Sie eroberte die Welt der Psychometrie im Sturm, das kann ich Ihnen versichern, und sie hat mich viele Freundschaften gekostet. Niemand lässt sich gern sagen, dass ein Computer seine Arbeit schneller und effizienter erledigt, besonders kein Psychologe mit zwanzigjähriger klinischer Erfahrung.
Ich ließ mir die Ergebnisse grafisch darstellen. Der Bildschirm leerte sich, und aus der linken unteren Ecke sprossen waagerechte und senkrechte Linien, gefolgt von diagonalen Wellen. Das waren die Parameter, innerhalb derer man anhand früherer Fälle
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