Der Wettlauf zum Suedpol
den beschwerlichen Weg nach Süden gewagt, war jedoch wenige hundert Meilen vor dem ersehnten Ziel gezwungen gewesen aufzugeben. Im Jahr zuvor war der irischstämmige Ernest Shackleton – vormaliger Weggefährte Scotts und nun erbitterter Konkurrent – ebenfalls unverrichteter Dinge aus der Antarktis zurückgekehrt. Und so sah sich Scott im Vorhinein bereits als der sichere Sieger des Wettrennens zum Pol.
Entsprechend selbstbewusst gab er sich vor den australischen Zeitungsreportern, die von einem Zollschiff zur auf Reede liegenden Terra Nova gebracht worden waren und nun den Kapitän mit Fragen bestürmten. Scott hatte nichts zu verheimlichen – und so erklärte er noch einmal geduldig,
was er Monate zuvor schon vor der Presse in England verkündet hatte: Der Angriff auf den Pol werde am McMurdo-Sund, einer geschützten Meeresbucht am Rand der sogenannten Großen Eisbarriere, beginnen und mit einer Kombination von Transportmitteln aus Motor-, Pony- und Hundeschlitten durchgeführt. Im Februar und März 1911 werde man auf dem Weg nach Süden zunächst Vorratsdepots anlegen und dann den antarktischen Winter abwarten, ehe im Oktober desselben Jahres die eigentliche Polfahrt beginne. »Am Pol selbst möchte ich am Mittsommertag, dem 22. Dezember, ankommen, wenn die Sonne ihre größte Höhe erreicht.« Im Übrigen werde man nicht eher umkehren, bis die Sache erledigt sei.
Noch ahnte Scott nicht, welche Bombe in der Post tickte, die man ihm vom Festland mitgebracht hatte. Früh am nächsten Morgen wurde Tryggve Gran, ein junger norwegischer Abenteurer, den Scott als Skiexperten mit auf die Reise genommen hatte, in die Kajüte des Kapitäns gerufen. »Er überreichte mir ein geöffnetes Telegramm«, erinnerte sich Gran später, »das lautete: ›Erlaube mir mitzuteilen, dass die Fram zur Antarktis fährt. Amundsen.‹ – ›Wie verstehen Sie das?‹« Gran war nicht weniger perplex als Scott. Der Name Amundsens war den Männern durchaus nicht unbekannt. Der Norweger hatte sich als unerschrockener Polarforscher einen Namen gemacht und war in seiner Heimat zum Volkshelden aufgestiegen. Zuletzt jedoch, so hatten es auch britische Zeitungen gemeldet, hatte er eine Expedition zum anderen Ende der Welt, der Arktis, vorbereitet. Eingeschlossen vom Packeis, wollte er sich in einer mehrjährigen Reise mit seinem Schiff, der Fram , in Richtung Nordpol driften lassen und mit etwas Glück als erster Mensch den entgegengesetzten Extrempunkt des Globus erreichen. Was also hatte jenes Telegramm zu bedeuten? Handelte es sich vielleicht nur um einen Übermittlungsfehler? Oder hatte man unversehens einen Herausforderer beim Kampf um den Pol bekommen? Sollte aus dem geplanten Triumphzug zum Südpol ein erbitterter Wettlauf werden?
Die Faszination des Unbekannten
Die Antarktis, jene Terra Incognita des Südens, hat die Menschen seit jeher fasziniert. Schon im antiken Griechenland existierten Vorstellungen eines riesigen Südkontinents. Da sich die damaligen Gelehrten den Aufbau der Erde nur symmetrisch vorstellen konnten, erforderte eine große Landmasse im Norden naturgemäß ein entsprechendes Äquivalent im Süden. Claudius Ptolemäus, wissenschaftliches Multitalent und Verfechter des später nach ihm benannten geozentrischen Weltbilds, ordnete 150 n. Chr. in seinem Standardwerk Geographia die Terra Australis (»Südliches Land«) entsprechend an. Er gab ihr auch den Namen »Antarktis« – das Land, das der Arktis, dem »Nordland« unter dem Sternbild des Großen Bären, gegenüberliegt. Bis zum Ende des Mittelalters, mehr als 1500 Jahre lang, sollte der sagenumwobene Südkontinent in dieser Form immer wieder in Kartenwerken auftauchen – manchmal sogar ausgeschmückt mit fiktiven Gebirgszügen, Flüssen oder Küstenformationen. Dabei war die Antarktis in den Vorstellungen der Zeit kein eisiger, öder Kontinent, sondern ein üppiges, fruchtbares Land unter der wärmenden Sonne des Südens – eine Art Eldorado und Schlaraffenland, besiedelt von glücklichen und gastfreundlichen Eingeborenen.
Auch die Entdeckung und Erkundung Amerikas und Australiens oder die Weltumsegelungen Ferdinand Magellans und Francis Drakes erschütterten dieses Fabelbild vom irdischen Paradies nur wenig. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden in Europa immer wieder Schiffsexpeditionen losgeschickt, um endlich den rätselhaften Kontinent zu finden – und in Besitz zu nehmen. Einem der Seefahrer, dem Franzosen Jean-Baptiste Charles Bouvet de Lozier,
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