Der Wind bringt den Tod
hätte. Als Jule sich bewusst machte, dass sie Geständnisse zu hören bekam, die womöglich an eine Tote gerichtet waren, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
»Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt, als sie eines Tages plötzlich vor der Tür stand und mit mir reden wollte«, fuhr Anke fort. »Sie wirkte fahrig und aufgeregt. Acht Jahre hat sie sich nur über oberflächliche Dinge mit mir ausgetauscht, und dann stellte sie mir völlig unerwartet eine Frage, die ich nie vergessen werde.«
»Und welche Frage war das?« Jule wusste nicht genau, ob sie die Antwort tatsächlich hören wollte.
»Sie wollte wissen, ob Hanno jemals die Hand ausgerutscht ist.«
»Und?« War das der Schrecken, der in diesem so beschaulichen Haus lauerte? Ein gewalttätiger Vater und Ehemann?
»Da wusste ich, warum sie wieder da war«, wich Anke aus. »Sie hatte mit einem Mann zu schaffen, der ihr Angst machte.«
»Und Sie haben ihr geraten, ihn zu verlassen, nehme ich an.«
»Ich konnte sehen, dass es ihr nicht gut ging.« Anke schüttelte den Kopf. »Kirsten war immer ein fröhlicher Mensch gewesen, der gern und viel gelacht hat. In der Zeit, als sie von einem braven Mädchen zu einer aufgeweckten jungen Frau wurde, dachte sie, die Welt wartet nur auf sie und ihre wilden Ideen. Als sie mich zum letzten Mal besucht hat, hat sie nicht einmal mehr gelächelt. Sie steckte so voller Angst. Ich habe sie förmlich angefleht, mir zu sagen, wer dieser Kerl ist. Ich habe sie angebettelt, mir wenigstens zu verraten, ob er sie schon einmal geschlagen hat oder ob sie nur befürchtet, dass er es bald tun könnte. Ohne Erfolg. Sie hat nur gesagt, dass ich sie so oder so nie verstanden hätte. Dass ich keine Ahnung davon hätte, wie kompliziert es sein kann, sich von jemandem zu trennen. Und dass ich mich nur weiter aufregen würde, wenn sie mir seinen Namen sagt, weil ich dann zu den vollkommen falschen Schlüssen käme.«
»Sie kannten diesen Mann also?«
Anke neigte den Kopf nach vorn und stützte ihn in beide Hände. »Ja. Da bin ich mir ganz sicher. Dann hat Kirsten ihren Autoschlüssel genommen, mir versprochen, mich anzurufen, sobald sich alles geklärt hat, und ist weggefahren. Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.«
Jule plagte das Gefühl, nur die Hälfte der Geschichte gehört zu haben. Mit pochendem Herzen fragte sie: »Und dann? Ich meine, wann haben Sie festgestellt, dass Ihre Tochter verschwunden ist?«
Anke setzte ihre Erzählung fort, ohne den Kopf hochzunehmen. »Als sie sich nach einer Woche nicht bei mir gemeldet hat, habe ich bei ihr angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen. Es kam immer noch keine Nachricht von ihr. Und dann habe ich den größten Fehler meines Lebens begangen. Ich wurde wütend auf Kirsten. Weil ich dachte, sie würde mir nicht genug vertrauen, um mir zu sagen, wie es mit diesem Kerl nun gelaufen ist. Weil ich es so unverschämt von ihr fand, erst hier aufzuschlagen, um sich bei mir auszuheulen, und anschließend so zu tun, als wäre rein gar nichts gewesen. Ich habe geschmollt. Hanno sagte bloß, ich solle mich nicht so aufregen. So wäre sie eben jetzt, seit sie in der großen Stadt wohnt. Dass sie uns für rückständige Bauern hält, die sowieso von nichts eine Ahnung haben. Ich konnte … ich … ich konnte ja nicht wissen, dass …« Sie stockte, tastete blind nach ihrer Serviette und wischte sich über die Augen.
Jule sagte nichts, weil sie inzwischen selbst mit den Tränen kämpfte. Sie hatte es noch nie ausgehalten, wenn andere in ihrer Anwesenheit weinten – schon gar nicht, wenn es sich um Leute handelte, die älter waren als sie. Und Anke Küver hätte ihre Mutter sein können.
Etwas gefasster sprach Anke weiter: »Nach einer Weile waren meine Sorgen größer als mein Ärger. Ich versuchte noch ein paarmal, sie anzurufen. Dann bin ich einfach nach Hamburg gefahren, ohne meinem Mann etwas zu sagen. Das war ungefähr ein Vierteljahr nach ihrem unangekündigten Besuch hier. Ich weiß noch, dass überall in der Stadt schon die Weihnachtsdekorationen hingen. Ich bin zu ihrer Wohnung. Die Pflanzen im Fenster waren vertrocknet. Ich habe bei einer Nachbarin geklingelt, die mich ins Haus ließ. Kirstens Briefkasten quoll vor Post über. Ich habe an ihrer Tür geklingelt und geklopft. Nichts. Ich habe mich auf die Treppe gesetzt und bis nachts um zehn gewartet. Um elf rief mein Mann auf dem Handy an, weil es nicht meine Art ist, so lange wegzubleiben, ohne
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