Der Wind bringt den Tod
war viel zu überrascht, um auf diese sonderbare Begrüßung einzugehen. Ebenso wenig konnte sie sich gegen die feste Umarmung wehren, zu der Anke Küver ansetzte. Einen Augenblick starrte sie die Frau einfach nur an, die sich da an sie presste. Jule blieb stocksteif.
Anke bemerkte, dass ihre Herzlichkeit nicht erwidert wurde. Sie ließ Jule los, trat einen Schritt zurück, und aus der Freude auf ihrem Gesicht wurde binnen eines Wimpernschlags herbe Enttäuschung.
»Oh, tut mir leid.« Ihre Stimme klang glockenhell und dünn. »Ich habe Sie verwechselt.« Ihre Augen wurden groß. »Frau Schwarz, richtig?«
Jule nickte nur.
Nach einer weiteren Entschuldigung, bei der sie den Blick zu Boden gerichtet hielt, bat Anke Jule ins Haus. Da Anke einen Kopf kleiner war, erkannte Jule die grauen Ansätze in ihrem kastanienbraunen Haar. Dass sie sich die Haare färben musste, passte zu den scharfen Falten, die von ihren Mundwinkeln zu ihrem Kinn hinunterliefen. Anke Küver war offenbar eine Frau, die in ihrem Leben schon viel gesehen hatte.
Auf Jules Besuch war sie gut vorbereitet. Auf dem Tisch im Esszimmer war für zwei Personen zum Kaffee gedeckt. Jule nahm gern ein Stück Rührkuchen, dessen Glasur den intensiven Duft von Zitronenaroma verströmte.
Der Kaffee war ausgezeichnet – nicht zu stark und nicht zu schwach. Nachdem sich die Wärme des ersten Schlucks in Jules Bauch ausgebreitet hatte, schlug sie die Beine übereinander und sagte: »Schön, dass Sie für mich Zeit haben, Frau Küver. Ihr Mann meinte nämlich, Sie hätten momentan eigentlich andere Dinge um die Ohren.«
Anke schaute sie über den Rand ihrer Tasse an. Es gelang ihr nicht, die Trauer in ihren Augen zu kaschieren. »Ja, das muss man wohl so sagen.«
Jule probierte den Kuchen, der ihr zu süß war, und schluckte den Bissen hinunter. »Der ist köstlich.«
»Danke.«
Jule strich mit den Fingerspitzen über die Kladde, die sie neben ihren Teller auf den Tisch gelegt hatte. »Es würde mich unglaublich freuen, wenn ich Ihnen –«
»Einen Augenblick bitte, Frau Schwarz.« Anke stellte ihre Tasse behutsam ab. »Bevor wir anfangen, will ich Ihnen noch erklären, was da eben an der Tür vorgefallen ist.«
»Okay«, antwortete Jule gedehnt. Sie fand es eigentlich nicht nötig, darauf einzugehen, aber wenn ihre Verhandlungspartnerin darauf bestand, wollte sie ihr dabei keine Steine in den Weg legen.
»Ich habe Sie für meine Tochter gehalten«, sagte Anke.
»Ach so.« Etwas an Ankes Tonfall löste ein Kribbeln in Jules Nacken aus.
Anke stand auf. »Ich weiß, dass sich das verrückt anhört.«
»Ach, was heißt schon verrückt?«, wiegelte Jule ab.
»Ich muss Ihnen etwas zeigen«, sagte Anke und ließ Jule allein im Esszimmer zurück.
Jules Irritation wuchs mit jeder Sekunde, die sie auf Anke warten musste. Der bisherige Verlauf dieses Gesprächs biss sich mit ihren Erwartungen. Was, wenn es ganz aus dem Ruder lief?
»So.« Anke war wieder da. Sie hielt einen grauen Aktenordner und ein Fotoalbum mit blauem Einband in den Händen. Der Ordner landete vorerst unbeachtet auf einem Stuhl, das Album hingegen schlug sie weit hinten auf und reichte es Jule über den Tisch.
Jule stockte der Atem. Das Bild vor ihr – eine auf Fotopapier ausgedruckte Aufnahme – war auf einer großen Familienfeier entstanden. Vielleicht ein runder Geburtstag, denn für eine Hochzeit waren die Gäste nicht schick genug und für eine Beerdigung trugen zu wenige von ihnen schwarz. Auf den ersten Blick hätte Jule glauben können, sie habe an dieser Feier teilgenommen und es inzwischen aus unerfindlichen Gründen wieder vergessen: Die Frau, die auf dem Foto neben Anke Küver saß, hätte sie selbst sein können. Das Alter, die Gesichtsform, die Haarfarbe, die Augen, die Figur und sogar der Geschmack in Kleidungsfragen war ähnlich.
Erst, als Jule ein wenig länger hinsah, traten die Unterschiede zwischen ihr und dieser Person – zweifelsohne war das Ankes Tochter – für sie immer deutlicher zum Vorschein: Die Nase war ein bisschen zu lang, der Mund ein wenig zu breit, und Jule hatte auch weder eine Andeutung von Grübchen in den Wangen noch ein winziges Muttermal auf dem linken Jochbein. Die Ähnlichkeit war insgesamt lange nicht so frappierend wie zwischen Zwillingen, aber diese Frau wäre durchaus als Jules Schwester oder Kusine durchgegangen.
»Sie haben mich mit Ihrer Tochter verwechselt. Ich verstehe sehr gut, wie das passieren konnte. Ich musste eben auch
Weitere Kostenlose Bücher