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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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Waschbecken.
    Sie schüttelte ihr Haar aus, das sie seit Jahren nicht mehr offen getragen hatte. Beim Blick in den Spiegel kam sie sich einen winzigen Moment vor wie eine Fremde – wie eine andere Jule Schwarz, die irgendwo tief in ihr verborgen lag und darauf wartete, sich endlich zeigen zu dürfen.

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    Als Jule zum zwölften Mal die Odisworther Hauptstraße mit knapp 40 km/h hinunterfuhr und am Ende des Dorfes wieder an dem Feldweg wendete, bemerkte sie, dass sie endlich entspannter wurde: Sie biss sich nicht mehr auf die Zunge, und sie rechnete nicht mehr jeden Augenblick damit, dass Jonas Plate aus einer Ausfahrt unmittelbar vor ihr auf die Fahrbahn schoss. Über beides verspürte sie eine leise Zufriedenheit. Nur die sonderbaren Blicke, die ihr ein älterer Mann schenkte, wenn sie ihn in ihrem BMW passierte, machten sie nervös. Er strich sein Garagentor in einem hässlichen Braun und schaute ihr bei jeder neuen Runde ein wenig länger nach. Jule beschloss, die Strecke ihres Übungsparcours zu erweitern. In den nächsten paar Stunden pendelte sie zwischen den beiden Nachbardörfern Joldebek und Kolkerlund, die sich vom Gesamteindruck her nicht wesentlich von Odisworth unterschieden. Das Navi schaltete sie irgendwann aus, weil das Gerät mit dem ständigen Hin und Her anscheinend nicht zurechtkam: Mehrfach schlug die Elektronik ohne Jules Zutun neue Routen vor, die allesamt in Odisworth geendet hätten.
    Die Sonne brannte heiß vom wolkenlosen Himmel und heizte das Innere des Wagens immer weiter auf. Die Klimaanlage weigerte sich beharrlich, die kühlen 21 Grad zu schaffen, die Jule als gewünschte Temperatur eingestellt hatte. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn, und jedes Mal, wenn sie sich im Sitz ein Stück nach vorn bewegte, spürte sie, wie der Stoff ihrer Bluse an ihrem Rücken klebte.
    Sie sehnte das Weckerschrillen ihres Handys herbei, das sie darüber in Kenntnis setzen würde, dass es Zeit für ihren Termin bei den Küvers war.
    Als es so weit war, gab sie die Adresse, die sie aus dem Telefonbuch in ihr Smartphone übertragen hatte, ins Navi ein und ließ sich zurück nach Odisworth lotsen, obwohl sie den Weg dorthin auch ohne jede Anstrengung allein gefunden hätte. Der Mann, der vorhin sein Garagentor gestrichen hatte, stand noch immer auf seiner Leiter. Jule hoffte, er würde für sich behalten, dass er sie so oft an sich vorbeifahren gesehen hatte. Ihr Stand im Dorf war schwer genug, auch ohne Gerüchte darüber, wie sie einen ganzen Morgen damit verbrachte, vom einen Ende des Dorfes zum anderen zu gondeln.
    Ihre Stimmung hellte sich wieder auf, als sie am Hof der Küvers ankam. Ein Schild mit einem grünen Siegel wies ihn als Biobetrieb aus. Insbesondere im Vergleich zu Erich Fehrs’ heruntergewirtschaftetem Besitz wirkte er sauber und ordentlich. Jule parkte vor einem blau gestrichenen Bollerwagen, der zu einem Trog für Geranien umfunktioniert worden war. Sie tupfte sich mit einem Taschentuch noch rasch den Schweiß von der Stirn, klemmte sich eine Kladde mit Infobroschüren und Vertragsentwürfen unter den Arm und stieg aus. Von einer nahen Weide aus schauten ihr eine Handvoll Rinder neugierig entgegen. Es handelte sich um kompakte rotbraune Tiere, deren struppiges Fell ihnen etwas Urtümliches verlieh. Rinder wie diese sah man in Hamburg auf Plakatwerbung für Reisen nach Schottland, aber hier fügten sie sich nahtlos in die Szenerie ein.
    Jule ging auf das Haupthaus zu, vor dem ein dunkelgrüner Landrover und ein violetter Golf abgestellt waren. Die Wand war weiß getüncht, die Fensterläden blau und rot gestrichen. An einem Fahnenmast wehten dieselben Farben in Form der schleswig-holsteinischen Landesflagge. Aus dem Giebel des Daches ragten zwei geschnitzte Pferdeköpfe, die einander anblickten. Die Haustür lag geschützt in einem kleinen Windfang. Sie klingelte.
    Das obere Drittel der Tür bestand aus einer Art Fenster, durch das Jule ins Haus hineinsehen konnte. Über einen gefliesten Flur kam ihr eine Frau Anfang fünfzig entgegen. Sie war auffällig modisch gekleidet – enge schwarze Jeans, petrolfarbener Schlabberpulli, weißes Halstuch. Die ersten Schritte legte die Frau zielstrebig zurück. Dann geschah etwas Merkwürdiges: Als sie den Kopf hob, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr Mund öffnete sich und sie fasste sich mit beiden Händen an die Brust. Nach einigen Sekunden stürzte sie auf die Tür zu, riss sie auf und rief: »Kirsten! O Gott! Kirsten!«

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    Jule

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