Der Wind bringt den Tod
lange zurückgehalten hatte, rannen ihr nun unaufhörlich über die Wangen. »Wie konnte sie so etwas sagen? Sie hat von uns immer alles bekommen, was sie wollte. Alles. Sie war unser Leben. Und was ist der Dank? Dass sie uns hier sitzen lässt und abhaut. Erst nach Hamburg und dann weiß Gott wohin.«
Jule blieb still sitzen. Selbst ihr Atem kam ihr laut und störend vor. Sie wagte es nicht einmal, an ihrem Ohrläppchen zu zupfen oder den Ring an ihrem Finger zu drehen.
»Wissen Sie, was das Fürchterlichste ist?«
Jule sagte nichts.
»Das Fürchterlichste daran ist, dass ich mir wünschen muss, ein undankbares Balg in die Welt gesetzt zu haben, das sich einen Dreck dafür interessiert, wie es seinen Eltern geht.« Anke schluchzte. »Wenn es nämlich nicht so ist, dann … dann ist sie schon längst …« Sie heulte so laut auf, dass Jule heftig blinzelte, damit ihr nicht selbst die Tränen aus den Augen schossen.
Jule atmete tief durch, als Anke auf dem Absatz umdrehte und aus dem Esszimmer stürmte. Sie hörte eine Tür zuschlagen und kurz darauf Laute, die dank der Wände zwischen ihr und der Frau gnädig gedämpft waren.
Selten hatte es Jule mehr geschmerzt, mit einer Vermutung richtig zu liegen: Die malerische Fassade von Odisworth war wahrhaftig nichts als schöner Schein. In jedem Haus – sogar in den schönsten und größten, wie dem, in dem sie gerade saß – lauerten Leid, Düsternis und Verzweiflung. Jetzt fühlte sie sich Kirsten Küver noch näher, als es durch die rein äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen ihnen ohnehin schon der Fall gewesen war. Jule hätte wahrscheinlich genauso gehandelt wie sie und bei der erstbesten Gelegenheit die Flucht aus diesem Dorf angetreten. Nein, Jule hatte vor einigen Jahren tatsächlich genauso gehandelt wie Kirsten: Sie war aus ihrer Heimat geflohen, getrieben von einem Schmerz, der sich wie ein brennender Stachel in ihr gesamtes Wesen gebohrt hatte. Hatte auch Kirsten ein solches dunkles Geheimnis mit sich herumgetragen?
Nach ein paar Minuten nahm Jule ihre Kladde vom Tisch und stand auf. Sie trat auf den Flur und auf die Haustür zu.
»Bitte gehen Sie nicht.«
Jule drehte sich um.
Ankes Augen waren rot geweint, aber sie hielt die Schultern straff und das Kinn nach oben gereckt. »Wir haben noch nicht über das Geschäft geredet.«
Die folgende halbe Stunde verlief in einer seltsam unwirklichen Atmosphäre, die Jule an die Abende bei den Jepsens erinnerte. Anke erwähnte weder ihren Zusammenbruch noch schenkte sie den Scherben auf dem Boden irgendeine Notiz. Stattdessen schilderte sie Jule in knappen Worten ihre prinzipielle Bereitschaft, Teile ihres Landes für den Windpark zur Verfügung zu stellen. Die Küvers hatten größere Summen in die Modernisierung und die Umstellung ihres Hofes auf biologische Landwirtschaft investiert – Investitionen, die noch weit davon entfernt waren, sich zu amortisieren. Daher stellte der Windpark für sie ein verlockendes Angebot dar: Sie konnten nicht nur ihre Schulden in absehbarer Zeit abtragen, sondern gleichzeitig auch noch ihre Versorgung im Alter absichern. Die einzige Hürde für einen sofortigen Vertragsabschluss war ihre Besorgnis, sich bei den anderen Dörflern unbeliebt zu machen, wenn sie als Erste unterschrieben. Jule musste Anke versprechen, ihr noch am gleichen Tag Bescheid zu geben, an dem ein anderer Odisworther außer Bürgermeister Mangels sich dafür entschied, den Windpark tatkräftig zu unterstützen. Dann sei alles nur noch reine Formsache. Nach dieser Ankündigung komplimentierte Anke sie rasch aus dem Haus, unter dem Vorwand, sie müsse mit dem Kochen anfangen.
Jule, die kaum glauben wollte, dass ihr Besuch nach dem bestürzenden Beginn noch eine derartige Wendung genommen hatte, setzte sich in ihren Wagen und wählte die Handynummer ihres Chefs. Entgegen seiner Beteuerungen, er warte dringend auf gute Nachrichten von ihr, erwischte sie nur seine Mailbox. »Hallo, Norbert. Ich wollte dir nur sagen, dass jetzt die ersten Bauern weichgeklopft sind. Wenn es so weiterläuft, bleiben wir im Zeitplan.«
Nach dem Auflegen überkam Jule ein irrwitziges Gefühl: Sie war überzeugt, dass sie nicht allein im Auto saß. Wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie auf der Rückbank jemanden vorfinden, da war sie sich sicher. Die Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf, und ihr Puls ging schneller. Den nötigen Mut, sich tatsächlich umzudrehen, fand sie nicht. Doch sie warf einen flüchtigen Blick
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