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Der Wind bringt den Tod

Der Wind bringt den Tod

Titel: Der Wind bringt den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ole Kristiansen
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zweimal hinsehen.« Jule lächelte Anke freundlich an. Womöglich war es für die Verhandlungen von Vorteil, dass diese Ähnlichkeit bestand. Es war ein schäbiger Gedanke, aber Jule hatte ihre Sprünge auf der Karriereleiter nicht ohne die nützlichen Effekte der menschlichen Psychologie geschafft.
    Anke nahm das Album zurück und betrachtete ein, zwei Sekunden lang versonnen das Bild. »Vielleicht begreifen Sie jetzt, warum wir derzeit etwas abgelenkt sind.« Sie klappte das Album zu. »Meine Tochter ist vor etwas mehr als anderthalb Jahren spurlos verschwunden.«

73
     
    Natürlich begriff Jule, und sie schämte sich, dass sie eben noch gehofft hatte, aus der Ähnlichkeit zu Kirsten Küver Nutzen für ihre Verhandlungen zu ziehen. Was die Küvers ihr gegenüber hinter freundlichen Floskeln – viel um die Ohren, andere Dinge im Kopf – verborgen hatten, war eine grausame Wahrheit: Nach dem Leichenfund einer blonden jungen Frau am letzten Freitag fürchteten sie sich vor jedem Anruf und jedem Läuten an der Tür.
    »Mein Mann und ich machen uns Vorwürfe«, sagte Anke leise. »Schwere Vorwürfe.«
    »Die Identität der Toten ist noch nicht geklärt«, erwiderte Jule zögerlich. Es war ein schwaches Argument. Obwohl sie der Mutter einer Vermissten gerade Mut zusprechen wollte, erhielt die anonyme Tote aus dem Wäldchen in Jules Denken einen Namen und ein Gesicht. Ihr Name lautete Kirsten Küver, und das Gesicht war ihrem eigenen zum Verwechseln ähnlich. Die Tote hatte jetzt ein Elternhaus, in dem Jule zu Kaffee und Kuchen eingeladen worden war, und eine Familie, die um sie trauern würde. Jule schnürte es die Kehle zu, und sie überlegte, die Verhandlungen zum Windpark, die ihr plötzlich banal und unbedeutend erschienen, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
    »Die Tote ist noch nicht identifiziert, ja«, wiederholte Anke und senkte die Stimme beinahe zu einem Flüstern. »Aber selbst wenn Kirsten noch lebt. Wir haben schon weit vor ihrem Verschwinden dafür gesorgt, dass sie nicht mehr viel mit uns zu tun haben wollte.« Sie wischte sich hektisch über den Mund. »Die Probleme fingen an, nachdem sie mit der Schule fertig war. Sie wollte weg aus dem Dorf. Nach Hamburg. Jura studieren. Mein Mann und ich waren dagegen. Wir waren so gekränkt. Wir hatten nichts dagegen, dass sie studieren wollte. Aber wir hätten es lieber gesehen, wenn es Agrarwissenschaften gewesen wären. Wegen des Hofs. Damit sie ihn irgendwann übernehmen kann. Wir haben uns wochenlang nur gestritten. Da ist sie einfach ausgezogen. Dann haben wir über einen Monat nichts von ihr gehört. Ich war krank vor Sorge. Mein Mann hat auf stur geschaltet und gemeint, sie würde schon wieder kommen, sobald ihr das Geld ausgeht. Dann bekamen wir einen Brief von ihr, in dem sie uns einen Kompromiss angeboten hat: Sie würde im Nebenfach Biologie belegen, wenn wir sie finanziell unterstützen. Darauf haben wir uns letzten Endes geeinigt, aber zwischen uns wurde es nie wieder wie vorher. Sie hat ihren Abschluss gemacht und ist in Hamburg geblieben. Mein Mann sagt, sie hätte die Stelle dort überhaupt nur angenommen, um uns zu ärgern. Sie arbeitete bei einer Biotechnologiefirma, die an genverändertem Saatgut forscht.«
    »Möglicherweise wollte sie nur lieber in der Großstadt leben«, wandte Jule ein.
    »Das habe ich ihm auch gesagt, aber er wollte es nicht hören.« Anke seufzte. »In den ganzen acht Jahren, in denen sie in Hamburg gewesen ist, haben wir sie nur dreimal besucht. Sie kam zu Weihnachten und zu meinen Geburtstagen nach Hause. Die von Hanno hat sie ignoriert. Wir haben ungefähr alle vier Wochen mal kurz miteinander telefoniert. Das war alles. Mehr Kontakt hatten wir nicht. Und jetzt wünsche ich mir jeden Tag, wir hätten uns mehr darum bemüht, sie spüren zu lassen, dass wir immer nur das Beste für sie wollten.«
    »Ich bin mir sicher, dass ihr das immer klar war«, sagte Jule. Als ihr auffiel, dass sie in der Vergangenheit von Kirsten sprach, schaute sie betreten auf das Stück Kuchen auf ihrem Teller. Sie musste kein Genie sein, um zu wissen, warum Anke Küver gegenüber einer wildfremden Person eine derartige Offenheit zeigte: Wäre Jule klein und dunkelhaarig gewesen, hätte Anke wahrscheinlich den Teufel getan und über das zerrüttete Verhältnis zu ihrer Tochter geredet. Jule war in Ankes Kopf zu Kirstens Stellvertreterin geworden, der sie all das anvertrauen konnte, was sie ihrer verschwundenen Tochter gern gesagt

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