Der Wind bringt den Tod
schöner Tag.
75
Der Haupttext der Mail von Kirsten Küver an Andreas war nicht sehr lang, aber dafür umso beunruhigender – vor allem, wenn man berücksichtigte, was Anke Küver über den letzten Besuch ihrer Tochter erzählt hatte.
Habe noch einmal lange über alles nachgedacht. Ich finde, Du übertreibst. Außerdem ist es meine Entscheidung. Kapiert?KirstenJule schaute auf. Anke musterte sie eindringlich. Was mochte sich die Frau gerade denken? Jule war eine Kollegin des Mannes, dem Anke zumindest eine Mitschuld am Verschwinden ihrer Tochter gab. Erwartete sie von Jule eine Bestätigung ihres Verdachts? Sie selbst fand es erstaunlich genug, dass Andreas nach seinem Weggang überhaupt Kontakt zu jemandem aus Odisworth gehalten hatte. Bei seinem sonderbaren Anruf hatte es doch eher so geklungen, als wäre er froh gewesen, nie wieder etwas von diesem Dorf zu hören. Und auch so, als hätte es ihn belastet, dass ausgerechnet er zum Leiter eines Projekts ernannt worden war, das ihn zwangsläufig in seine alte Heimat zurückführte. Es war allerdings auch möglich, dass ihn und Kirsten das geteilte Schicksal, erfolgreich aus Odisworth geflohen zu sein, eng zusammenschweißte, nachdem sie sich in Hamburg per Zufall begegnet waren. Obwohl die Elbmetropole eine Millionenstadt war, lief ja auch Jule ab und an Leuten über den Weg, die sie noch aus ihren Kinder- und Jugendtagen in Pinneberg kannte. In dieser Hinsicht war Hamburg ebenso ein Dorf wie Odisworth.
»Was hat die Polizei zu dieser Mail gesagt?«, wollte Jule wissen.
»Sie haben ihn verhört«, antwortete Anke.
»Und was ist dabei herausgekommen?« Jule war durcheinander. Sie mochte Andreas nicht sonderlich, weil er ein Chaot und Angeber war. Eine schwere Misshandlung oder gar einen Mord traute sie ihm allerdings beim besten Willen nicht zu. Er war ein Aufschneider – große Klappe, nichts dahinter.
»Er hat abgestritten, dass er Kirsten je bedroht hat. Er hat ausgesagt, sie wären nur gute Freunde gewesen und ab und zu zusammen einen Kaffee trinken gegangen, um über alte Zeiten zu plaudern.«
»Aber die Mail sieht für mich nicht nach einer netten Plauderei aus«, sagte Jule.
»Kein Stück. Da soll es darum gegangen sein, dass Kirsten ein Jahr allein nach Fernost wollte. Mit dem Rucksack quer durch Indien, Thailand, Vietnam, und was es da sonst noch alles gibt.«
»Konnte man das belegen?« Jule kannte einige Kollegen bei Zephiron, die in besonders stressigen Phasen im Büro immer mal wieder laut davon träumten, einfach auszusteigen und irgendwo in der weiten Welt zu sich selbst zu finden. Daher kam ihr Andreas’ Aussage auch nicht zwingend wie eine schlechte Ausrede vor.
»Bedingt«, räumte Anke ein, der dieses Eingeständnis sichtlich schwerfiel. »Kirsten hatte sich ein paar Tage vor dieser Mail im Netz über Flüge nach Asien, Reiserouten und günstige Übernachtungsmöglichkeiten vor Ort informiert. Die Polizei hat auch Kirstens Therapeuten darauf angesprochen, und er –«
»Ihre Tochter war in Therapie?« Jule konnte sich nicht zurückhalten. Das rückte die Sache in ein vollkommen anderes Licht: Kirsten war verschwunden, und es stand auch zu befürchten, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen war. Die Information mit der Therapie allerdings eröffnete die erschütternde Variante, dass ihr etwaiger Tod nicht mit einem Fremdverschulden zusammenhing. »Kann es sein, dass …« Jule brachte die Frage nicht zu Ende.
»Nein, kann es nicht«, sagte Anke scharf. »Laut ihrem Therapeuten war sie nicht der Typ, um sich umzubringen. Sie war eher der Typ, der davonläuft. Er meinte, sie hätte gelegentlich den Wunsch geäußert, Deutschland zu verlassen, um Abstand zwischen sich und die Menschen zu bringen, in denen sie die Auslöser für ihre Probleme sah.« Jule sah eine Regung in Ankes Augen aufblitzen, die sie nicht zuordnen konnte. Es hätte Zorn, aber auch genauso gut Enttäuschung sein können. »Sie litt unter Minderwertigkeitskomplexen, hat er gesagt. Und darunter, dass sie das Gefühl hatte, immer nur die Erwartungen anderer erfüllen und übertreffen zu müssen, ohne dass jemand Rücksicht auf ihre eigenen Wünsche nahm.«
Plötzlich ging alles sehr schnell. Anke packte die Tasse, die vor ihr stand, und warf sie mit voller Wucht zu Boden. Das Porzellan zerschellte auf den Fliesen. Jule schrie überrascht auf und spürte eine lauwarme Nässe an ihrem Hosenbein.
Anke sprang auf. »Das ist so ungerecht.« Die Tränen, die sie so
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